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Sonny saß in der offenen Kabine des Beichtstuhls, die Uzi auf das perforierte Holzbrett gerichtet, das die Kabinen trennte. Auf der anderen Seite war der schwarze Vorhang beinahe vollständig zugezogen. Nur ein winziger Spalt öffnete sich, aber durch den sah Simon eine Hand. Und dass sich auf dem Steinboden unter dem Vorhang langsam eine Blutlache bildete.

Simon schlich sich näher und konnte Sonnys geflüsterte Worte verstehen:

»Alle irdischen und himmlischen Götter erbarmen sich deiner und vergeben dir deine Sünden. Du wirst sterben, aber die Seelen der Sünder, denen vergeben wurde, werden ins Paradies eingehen. Amen.«

Es wurde still.

Simon sah, wie sich Sonnys Finger um den Abzug legte.

Simon steckte die Pistole zurück ins Schulterhalfter. Er hatte nicht vor, irgendetwas zu tun. Der Junge sollte das Urteil fällen und vollstrecken. Er selbst würde später gerichtet werden.

»Ja, wir haben deinen Vater getötet.« Die Stimme des Zwillings drang leise durch den Vorhang. »Das mussten wir. Ich hatte eine Nachricht vom Maulwurf erhalten, dass dein Vater plante, ihn umzubringen. Hörst du?«

Sonny antwortete nicht. Simon hielt den Atem an.

»Es sollte in der gleichen Nacht geschehen, in den mittelalterlichen Ruinen im Maridalen«, sagte der Zwilling. »Der Maulwurf sagte, die Polizei sei ihm auf der Spur und es sei sicher nur eine Frage der Zeit, bis er entlarvt würde. Deshalb wollte er, dass wir den Mord wie einen Selbstmord aussehen ließen, als wäre dein Vater der Maulwurf. Die Polizei würde dann die Suche einstellen. Ich bin darauf eingegangen, ich musste schließlich meinen Maulwurf verteidigen.«

Simon sah, dass Sonny sich die Lippen mit der Zunge befeuchtete. »Und wer ist dieser Maulwurf?«

»Das weiß ich nicht. Ich schwöre es. Wir haben ausschließlich über Mail kommuniziert.«

»Dann erfahren Sie es auch nicht mehr.« Sonny hob die Uzi wieder und legte den Finger erneut auf den Abzug. »Haben Sie Angst?«

»Warte! Du brauchst mich nicht zu töten, Sonny, ich verblute hier sowieso. Ich bitte dich nur darum, dass ich von meinen Liebsten Abschied nehmen darf, bevor ich sterbe. Ich habe deinem Vater gestattet, zum Schluss noch in ein paar Worten auszudrücken, wie sehr er dich und deine Mutter liebte. Willst du mir armen Sünder nicht das gleiche Recht zugestehen?«

Simon sah, wie Sonnys Brust sich hob und senkte. Seine Kiefermuskeln zuckten.

»Nein«, sagte Simon, »geh nicht darauf ein, Sonny, er …«

Sonny wandte sich ihm zu. Sein Blick war voller Wärme. Helenes Blick. Er hatte die Uzi bereits gesenkt. »Simon, er bittet doch nur darum …«

Simon sah eine Bewegung hinter dem Spalt in der Gardine, eine Hand, ein vergoldetes Feuerzeug in Form einer Pistole. Und Simon wusste bereits in diesem Moment, dass die Zeit nicht reichte. Die Zeit, Sonny zu warnen oder selbst zu reagieren und die Pistole aus dem Schulterhalfter zu ziehen, oder Else zu geben, was sie verdient hatte. Er stand auf dem Geländer der Brücke über den Akerselva, und unter ihm brodelte der Wasserfall.

Simon sprang.

Er katapultierte sich aus dem Leben in das wunderbar surrende Casinorad. Es brauchte weder Intelligenz noch Mut, nur die Dreistigkeit der Dummen und Verdammten, die bereit sind, um eine für sie nicht sonderlich wertvolle Zukunft zu spielen, und die wissen, dass sie weniger zu verlieren haben als andere.

Er sprang in die offene Kabine, zwischen den Sohn und das perforierte Holz, und hörte den Knall. Spürte den Biss, den lähmenden Stich der Kälte oder Hitze, die seinen Körper entzweiriss und alle Verbindungen trennte.

Dann kamen die anderen Geräusche. Die Uzi. Simons Kopf lag auf dem Boden des Beichtstuhls, und er registrierte, wie Holzsplitter auf ihn herabregneten. Er hörte den Schrei des Zwillings, hob den Kopf und sah den großen Mann. Er taumelte aus dem Beichtstuhl zwischen die Bankreihen. Die Kugeln zerfetzten wie ein wütender Bienenschwarm den Rücken seiner Anzugjacke. Die leeren Hülsen der Uzi fielen noch immer glühend heiß auf Simon und verbrannten ihm die Stirn. Der Zwilling stieß auf beiden Seiten Bankreihen um, bevor er in die Knie ging. Er bewegte sich aber noch immer. Er wollte nicht sterben. Das war nicht normal. Vor vielen Jahren hatte Simon gemerkt, dass die Mutter eines der von ihnen am meisten gesuchten Verbrecher bei ihnen arbeitete – in der Putzkolonne –, und als er zu ihr ging, waren das ihre ersten Worte: Levi ist nicht normal. Sie als Mutter liebte ihn, aber seit seiner Geburt hatte er ihr mit ­seiner Größe Angst gemacht. Und dann hatte sie Simon von dem einen Mal erzählt, als der kleine große Levi mit ihr zur Arbeit gekommen war, weil zu Hause niemand auf ihn aufpassen konnte. Er stand auf ihrem Putzwagen hinter dem Eimer, starrte auf die Wasserfläche und sagte, da unten sei einer, der genauso aussehe wie er. Sissel schlug vor, er könne ja mit ihm spielen und ging die Papierkörbe leeren. Als sie zurückkam, hatte der Junge den Kopf tief in den Eimer gesteckt und strampelte verzweifelt mit den Beinen. Seine Schultern hatten sich am Rand des Eimers verkeilt, sie brauchte all ihre Kraft, um ihn ­herauszuziehen. Er war klitschnass und sein Gesicht bereits blau. Doch statt zu ­weinen, wie es die meisten Kinder getan hätten, lachte er. Und sagte, der Zwilling sei böse gewesen und habe versucht, ihn zu töten.

Die Mutter hatte sich mehr als einmal gefragt, woher ihr Sohn eigentlich kam, und erst an dem Tag, an dem er auszog, fühlte sie sich frei.

Der Zwilling.

Zwei Löcher kamen direkt zwischen dem breiten Stiernacken und dem gewaltigen Hinterkopf zum Vorschein, und die Bewegungen stoppten abrupt.

Natürlich, dachte Simon. Er war eben ein normales Einzelkind.

Der große Mann war schon tot, ehe er nach vorn kippte und seine Stirn mit einem weichen Platsch auf dem Steinboden aufschlug.

Simon schloss die Augen.

»Simon, wo …?«

»In der Brust«, sagte Simon und hustete. Das Klebrigfeuchte auf seiner Haut konnte nur Blut sein.

»Ich rufe einen Krankenwagen.«

Simon öffnete die Augen. Sah an sich herunter. Ein tiefes Rot breitete sich auf seinem Hemd aus.

»Das reicht nicht mehr, lass es sein.«

»Doch, vielleicht …«

»Hör zu!« Sonny hatte das Handy herausgeholt, aber Simon legte die Hand darauf. »Ich weiß zu viel über Schussverletzungen, verstanden?«

Sonny legte die Hand auf Simons Brust.

»Das reicht nicht«, sagte Simon. »Und du musst jetzt los. Du bist frei, hast getan, was du tun musstest.«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Dann hau mir zuliebe ab«, sagte Simon und nahm Sonnys Hand. Sie fühlte sich so warm und vertraut an, als wäre es seine eigene. »Du hast deine Arbeit getan.«

»Bleiben Sie still liegen.«

»Ich habe gesagt, der Maulwurf würde heute hier sein, und das war er. Und jetzt ist er tot. Lauf.«

»Gleich kommt ein Krankenwagen.«

»Hörst du nicht …«

»Wenn Sie nicht reden …«

»Ich war das, Sonny.« Simon sah in die klaren, sanften Augen des Jungen. »Ich war der Maulwurf.«

Simon hatte erwartet, die Pupillen des Jungen würden sich durch den Schock weiten und das Schwarz das helle Grün der Iris verdrängen. Aber es geschah nicht. Und er verstand.

»Du wusstest es, Sonny.« Simon versuchte zu schlucken, musste aber wieder husten. »Du wusstest, dass ich es war? Wie?«

Sonny wischte mit seinem Ärmel das Blut von Simons Mund. »Arild Franck.«

»Franck?«

»Er hat geredet, nachdem ich ihm den Finger abgeschnitten hatte.«

»Geredet? Er wusste nicht, wer ich war. Niemand wusste, dass Ab und ich die Maulwürfe waren, Sonny. Niemand.«

»Nein, aber Franck hat mir gesagt, was er wusste. Dass der Maulwurf einen Spitznamen hatte.«

»Das hat er dir gesagt?«

»Ja, und dieser Spitzname sollte Springer gewesen sein.«

»Der Springer, ja. Unter dem Namen habe ich Kontakt mit dem Zwilling aufgenommen. Es gab aber nur eine Person, die mich damals so genannt hat. Eine einzige Person. Woher wusstest du …?«