Sonny holte etwas aus seiner Jackentasche und hielt es Simon hin. Das Foto mit den angetrockneten Blutflecken zeigte zwei Männer und eine Frau vor einer Steinpyramide. Alle drei waren jung und lachten.
»Als ich klein war, habe ich oft unser Fotoalbum durchgeblättert, und dabei ist mir dieses Bild aus den Bergen aufgefallen. Und ich habe Mama gefragt, wer der Fotograf mit dem geheimnisvollen Namen war, Springer. Sie hat mir damals erzählt, dass sei Simon, der dritte der drei Freunde. Und dass sie ihn Springer getauft habe, weil er sich zu springen traute, wo sonst niemand es wagte.«
»Und du hast dann zwei und zwei zusammengezählt …«
»Franck wusste nicht, dass es zwei Maulwürfe waren. Aber was er sagte, hörte sich logisch an. Dass mein Vater Sie entlarvt hatte. Und dass Sie ihn getötet haben, bevor er Sie anzeigen konnte.«
Simon blinzelte, aber das Dunkel kroch von den Rändern des Sichtfeldes heran. Trotzdem sah er besser als je zuvor. »Und du hast dann deinen Plan gemacht, mich zu töten. Deshalb hast du Kontakt zu mir aufgenommen. Du wolltest, dass ich dich finde. Du hast auf mich gewartet.«
»Ja«, sagte Sonny. »Bis ich das Tagebuch gefunden habe und plötzlich verstand, dass mein Vater an der Sache beteiligt war. Dass ihr beide Verräter wart.«
»Da ist alles zusammengestürzt, und du hast dein Vorhaben aufgegeben. Weil es nichts mehr gab, wofür du töten konntest.«
Sonny nickte.
»Und was hat dich dann dazu gebracht, dich doch anders zu entscheiden?«
Sonny sah ihn lange an. »Etwas, was Sie gesagt haben. Es ist nicht die Aufgabe der Söhne, wie ihre Väter zu sein, sondern …«
»… besser als sie.« Simon hörte in der Ferne Polizeisirenen. Spürte Sonnys Hand auf der Stirn. »Also, Sonny, sei besser als dein Vater.«
»Simon?«
»Ja.«
»Du stirbst. Wünschst du dir noch etwas?«
»Ich will, dass sie mein Augenlicht bekommt.«
»Und Vergebung, willst du die auch?«
Simon presste die Augen zu und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht … ich verdiene das nicht.«
»Niemand von uns tut das. Wir sind nur menschlich, wenn wir sündigen. Aber wir sind göttlich, wenn wir vergeben.«
»Aber ich bin ein Niemand für dich, ein Fremder, der dir die Menschen genommen hat, die du geliebt hast.«
»Du bist jemand. Du bist der Springer, du warst immer da, aber auf keinem Bild zu sehen.« Der Junge zog Simons Jacke hoch und schob ihm das Bild in die Innentasche. »Nimm es mit auf die Reise, es sind deine Freunde.«
Simon schloss die Augen. Dachte: Okay.
Die Worte des Jungen hallten zwischen den Wänden der leeren Kirche wider: »Alle irdischen und himmlischen Götter erbarmen sich deiner und …«
Simon sah auf einen Blutstropfen, der gerade aus der Jacke des Jungen auf den Boden gefallen war. Er legte den Zeigefinger auf die rotgolden glänzende Oberfläche. Sah, wie sich der Tropfen förmlich an seiner Haut festsaugte, legte den Finger auf die Lippen und schloss die Augen. Er starrte hinunter in das tosende Wasser. Eine eiskalte Umarmung. Stille, Einsamkeit. Und Frieden. Und dieses Mal würde er nicht wieder an die Oberfläche kommen.
In der Stille, die nach dem zweiten Abspielen der Aufnahme eintrat, hörte Kari die Vögel; vollkommen unbeirrt zwitscherten sie draußen vor dem halbgeöffneten Fenster des Steakhauses.
Der Polizeipräsident starrte ungläubig auf den PC.
»Okay?«, fragte Øhre.
»Okay«, antwortete Parr.
Anwalt Jan Øhre zog den Speicherstick heraus und reichte ihn dem Polizeipräsidenten. »Haben Sie die Stimme erkannt?«
»Ja«, sagte Parr. »Er heißt Arild Franck und ist faktisch der Leiter des Hochsicherheitsgefängnisses Staten. Adel, überprüfen Sie, ob das Konto auf den Cayman-Inseln, das er angegeben hat, tatsächlich existiert? Wenn es stimmt, was er sagt, stehen wir vor einem Riesenskandal.«
»Das tut mir leid«, sagte Øhre.
»Ganz und gar nicht«, sagte Parr. »Ich hatte schon jahrelang so einen Verdacht. Erst neulich haben wir einen Hinweis von einem mutigen Polizisten aus Drammen erhalten. Er hat angedeutet, Lofthus habe vielleicht nur deshalb Freigang bekommen, um als Sündenbock für den Morsand-Mord herzuhalten. Vorerst sind wir der Sache noch nicht nachgegangen. Wir wollten sicher sein, dass wir genug gegen Franck in der Hand hatten. Aber mit dem Material haben wir mehr als genug Munition. Eine letzte Frage, bevor wir gehen …«
»Ja?«
»Hat Hauptkommissar Kefas gesagt, warum Sie ausgerechnet uns und nicht ihn selbst treffen sollten?«
Iversen warf Øhre einen Blick zu, ehe er mit den Schultern zuckte: »Er sagte, er sei anderweitig sehr beschäftigt. Und dass Sie beide die einzigen Kollegen seien, denen er hundertprozentig vertraue.«
»Verstehe«, sagte Parr und stand auf.
»Eine Sache noch …«, sagte Øhre und nahm sein Handy. »Mein Klient hat meinen Namen Hauptkommissar Kefas genannt, und der hat mich daraufhin kontaktiert und gefragt, ob ich mich um einen Krankentransport und die Bezahlung einer Augenoperation kümmern könnte, die er in der Howell-Klinik in Baltimore für morgen in Auftrag gegeben hat. Ich bin gerade von der Empfangsdame unserer Kanzlei informiert worden, dass eben eine junge Frau da war und eine rote Sporttasche abgeliefert hat, in der sich eine beträchtliche Summe Bargeld befinden soll. Ich möchte nur wissen, ist das etwas, dem die Polizei nachgehen wird?«
Kari merkte, dass das Gezwitscher draußen verstummt und nur noch das entfernte Heulen von Sirenen zu hören war. Mehrere Sirenen. Polizeiwagen.
Parr räusperte sich. »Ich weiß nicht, warum eine solche Information für die Polizei relevant sein sollte. Und da der Auftraggeber in diesem Fall als Ihr Klient zu betrachten ist, unterliegen Sie, soweit ich das sehe, der Schweigepflicht. Sie dürften mir also ohnehin nichts mehr sagen, sollte ich fragen.«
»Gut, dann sehen wir die Sache gleich«, sagte Øhre und klappte seine Mappe zu.
Kari spürte das Handy in ihrer Tasche vibrieren, stand schnell auf, ging ein paar Schritte zur Seite und nahm das Handy heraus. Gleich darauf hörte sie das dumpfe Klackern der Murmel, die auf den Holzboden fiel.
»Adel.«
Sie starrte auf die Murmel, die irgendwie zu zögern schien, unsicher, ob sie sich bewegen oder still liegen sollte. Dann rollte sie etwas unstet und langsam in Richtung Süden.
»Danke«, sagte Kari und steckte das Telefon in die Tasche, ehe sie sich zu Parr umdrehte, der sich gerade erhob. »In einem Fischrestaurant namens Nautilus sind vier Tote gefunden worden.«
Der Polizeipräsident blinzelte vier Mal hinter seinen Brillengläsern, und Kari fragte sich, ob das wohl eine Zwangshandlung war. Vielleicht blinzelte er ja einmal für jede neue Leiche in seinem Distrikt.
»Wo ist das?«
»Hier.«
»Hier?«
»Hier auf dem Kai. Nur ein paar hundert Meter entfernt.« Kari hatte die Murmel wiederentdeckt.
»Kommen Sie.«
Sie wollte zur Murmel laufen und sie mitnehmen.
»Auf was warten Sie, Adel! Kommen Sie!«
Die Murmel hatte jetzt einen gradlinigeren Kurs und mehr Tempo. Wenn sich Kari nicht entschloss, würde sie die Murmel aus den Augen verlieren.
»Ja«, sagte sie und rannte hinter Parr her. Die Sirenen waren inzwischen lauter, der Ton schwoll an und ab und durchschnitt die Luft wie eine Sense.
Sie liefen nach draußen ins weiße Sonnenlicht, in den vielversprechenden Morgen der blauen Stadt. Der Menschenstrom, der ihnen entgegenkam, teilte sich vor ihnen. Gesichter flimmerten durch Karis Sichtfeld. Und irgendwo, tief im Inneren ihres Gehirns, reagierte etwas auf eine Sonnenbrille und einen hellgrauen Anzug. Parr hatte Kurs auf die schmale Gasse genommen, in der bereits einige uniformierte Beamte verschwunden waren. Kari blieb stehen, drehte sich um und sah den grauen Anzugrücken an Bord der Nesoddenfähre gehen, die zur Abfahrt bereitstand. Dann drehte sie sich um und lief weiter.
Martha hatte das Verdeck geöffnet und den Kopf an die Kopfstütze gelehnt. Sie beobachtete eine Möwe, die zwischen dem blauen Himmel und dem blauen Fjord still im Wind stand. Die Möwe balancierte die Kräfte aus, maß die eigenen mit den äußeren, während sie nach Nahrung Ausschau hielt. Martha atmete ruhig und tief, aber ihr Herz klopfte wild, denn das Schiff legte gerade an. Nur wenige Leute fuhren so früh am Morgen von Oslo nach Nesoddtangen, so dass sie ihn kaum übersehen konnte, wenn er es geschafft haben sollte. Wenn. Sie wiederholte das stille Gebet, das sie auf den Lippen hatte, seit sie vor anderthalb Stunden bei Tomte & Øhre losgefahren war. Auf der letzten Fähre, die vor einer halben Stunde angelegt hatte, war er nicht gewesen, aber sie hatte sich selbst einzureden versucht, dass das auch ziemlich unwahrscheinlich gewesen wäre. Doch wenn er jetzt auch nicht auf dieser war … Was dann? Sie hatte keinen Plan B. Wollte keinen haben.