Выбрать главу

Jetzt kamen die Passagiere. Es waren nicht viele, die Menschen fuhren um diese Uhrzeit in die Stadt und nicht heraus. Sie nahm die Sonnenbrille ab. Spürte ihr Herz schlagen, als sie einen hellgrauen Anzug sah. Aber er war es nicht. Ihr Hals schnürte sich zusammen.

Doch da war noch einer mit Anzug.

Er ging etwas schief, als hätte er Wasser aufgenommen und segelte mit Schlagseite.

Ihr Herz schlug wieder schneller, und Tränen traten ihr in die Augen. Vielleicht war es nur die Morgensonne auf dem hellen Anzug, aber irgendwie schien er zu strahlen.

»Danke«, flüsterte sie. »Danke, danke.«

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, wischte sich die Tränen ab und rückte sich das Kopftuch zurecht. Dann winkte sie. Und er winkte zurück.

Und als er über den Hang auf sie zuging, wurde ihr plötzlich eine Sache bewusst: Das alles war zu schön, um wahr zu sein. Es musste eine Fata Morgana sein, ein Gespenst. Er war tot, erschossen, irgendwo gekreuzigt worden, und was sie jetzt sah, war nur seine Seele.

Er setzte sich mühsam ins Auto und nahm die Sonnenbrille ab. Er war blass, und seinen roten Augen sah sie an, dass auch er geweint hatte. Dann schlang er die Arme um sie und zog sie an sich. Erst glaubte sie, das Zittern käme von ihr, doch es ging von seinem Körper aus.

»Wie …?«

»Okay«, sagte er, ohne sie loszulassen. »Es ist alles gutgegangen.«

Sie blieben einen Moment fest umschlungen sitzen, als könnten sie nur aneinander Halt finden. Sie wollte eine Frage stellen, ließ es aber. Später würden sie noch genug Zeit haben.

»Was jetzt?«, fragte sie flüsternd.

»Jetzt«, sagte er, ließ sie vorsichtig los und richtete sich stöhnend auf. »Jetzt geht’s los. Großer Koffer.« Er nickte in Richtung Rückbank.

»Nur das Allernötigste«, erwiderte sie lächelnd, drückte die CD in den Player und reichte ihm das Handy. »Ich fahre die erste Strecke. Guckst du auf die Karte?«

Er sah auf das Display des Handys, während die flache, roboterartige Stimme leise aus den Lautsprechern sang: »My … personal …«

»Eintausenddreißig Kilometer«, sagte er. »Vermutliche Fahrzeit: zwölf Stunden und einundfünfzig Minuten.«

Epilog

Schneeflocken wirbelten aus einem blassen, endlosen Himmel und legten sich auf die Decke aus Asphalt, Wegen, Autos und Häusern.

Kari stand gebeugt auf der Treppe, schnürte sich die Schuhe zu und sah zwischen ihren Beinen hindurch die Straße hinunter. Simon hatte recht gehabt. Man sah neue Dinge, wenn man Perspektive und Standpunkt veränderte. Jede Form von Blindheit kann kompensiert werden. Sie hatte Zeit gebraucht, das zu verstehen. Zu erkennen, dass Simon Kefas in so vielem recht gehabt hatte. Nicht in allem. Aber in irritierend vielen Punkten.

Sie richtete sich auf.

»Ich wünsch dir einen schönen Tag, Schatz«, sagte die Frau, die in der Tür stand und Kari auf den Mund küsste.

»Ich dir auch.«

»Na ja, Böden wischen lässt sich kaum mit schönem Tag kombinieren. Aber ich werd’s versuchen. Wann kommst du wieder?«

»Zum Essen, wenn nichts dazwischenkommt.«

»Schön, es sieht aber so aus, als würde etwas dazwischenkommen.«

Kari drehte sich in die Richtung, in die Sam zeigte. Der Wagen, der vor dem Haus hielt, war bekannt, und das Gesicht, das sich hinter der heruntergelassenen Scheibe zeigte, noch mehr.

»Was gibt’s, Åsmund?«, rief Sam.

»Tut mir leid, dass ich beim Renovieren störe, aber ich muss deine Freundin entführen«, entgegnete der Kommissar. »Wir haben da was gefunden.«

Kari sah zu Sam, die ihr auf die Batzentasche der Jeans klopfte. Kari hatte irgendwann im Herbst den Rock und die Kostümjacke in den Schrank gehängt, und aus unerfindlichen Gründen waren sie dort auch geblieben.

»Hau schon ab und mach deine Arbeit!«

Während sie nach Osten über die E18 fuhren, ließ Kari den Blick über die schneebedeckte Landschaft gleiten. Sie wunderte sich, wie sehr der erste Schnee eine Grenze markierte, alles versteckte, was geschehen war, und die Welt veränderte, die man sah. Die Monate nach der Schießerei auf Aker Brygge und in der katholischen Kirche waren einfach nur chaotisch gewesen. Natürlich hatte die Polizei in der Kritik gestanden, insbesondere die Brutalität und die Tatsache, dass ein einzelner Mann einen derart rabiaten Alleingang machen konnte. Aber Simon wurde trotzdem mit allen Ehren beerdigt. Er war ein Polizist ganz nach dem Herzen des Volkes, einer, der sich gegen die Kriminellen der Stadt gewehrt und sein Leben im Einsatz für die Gerechtigkeit verloren hatte. Da konnte es schon mal vorkommen, wie Polizeipräsident Parr in seiner Grabrede sagte, dass man dem Regelbuch nicht auf Punkt und Komma folgte. Und damit auch nicht den norwegischen Gesetzen. Parr hatte allen Grund, eine gewisse Großzügigkeit zu zeigen, da er selbst die Regeln des norwegischen Steuerrechts brach und Teile des Familienvermögens in einem anonymen Fonds auf den Cayman-Inseln anlegte. Kari hatte Parr beim Leichenschmaus damit konfrontiert, dass die Nachforschungen über die Abrechnung der Stromkosten von Lofthus’ Haus sie schließlich zu seinem Namen geführt hatten. Parr gab das vorbehaltlos zu, wies allerdings darauf hin, er habe keine Gesetze gebrochen und bei alldem nur gute Absichten gehabt: Er wollte sein schlechtes Gewissen entlasten, dass er nach Abs Selbstmord nicht besser auf Sonny und seine Mutter aufgepasst hatte. Parr meinte, das Ganze habe ihn kaum etwas gekostet, habe andererseits aber sichergestellt, dass der Junge ein Haus hatte, das wenigstens bewohnbar war, wenn er aus dem Gefängnis kam. Auch mit der Tatsache, dass Buddha mit dem Schwert spurlos verschwunden war, hatte man sich irgendwann abgefunden. Sein Kreuzzug war mit dem Tode Levi Thous, alias der Zwilling, allem Anschein nach zu Ende.

Else sah jetzt viel besser. Die Operation in den USA war zu achtzig Prozent geglückt, erzählte sie, als Kari sie ein paar Wochen nach der Beerdigung besuchte. Und dass fast nichts vollkommen sei. Das Leben nicht, die Menschen, Simon nicht. Nur die Liebe.

»Er hat sie nie vergessen. Helene. Sie war die große Liebe seines Lebens.« Es war Sommer, und sie saßen im Garten in Disen, tranken Portwein und betrachteten den Sonnenuntergang. Und Kari hatte verstanden, dass Else etwas loswerden wollte. »Er hat mir erzählt, dass die beiden anderen, die ein Auge auf sie geworfen hatten, Ab und Pontius, schneller, stärker und klüger waren als er. Aber er war derjenige, der sie so sah, wie sie war. Das war das Besondere an Simon. Er sah Menschen, er sah ihre Engel und Dämonen. Und hatte selbst mit seinen eigenen zu kämpfen. Simon litt unter Spielsucht.«

»Das hat er mir erzählt.«

»Er und Helene wurden ein Paar, aber sein Leben war durch das Spielen das reinste Chaos. Die Beziehung hielt nicht lange, aber Simon sagte, dass er sie schon nach kurzer Zeit fast mit in den Abgrund gezogen hätte. Irgendwann kam Ab Lofthus und rettete sie vor ihm. Ab und Helene zogen aus. Simon war am Boden zerstört. Und kurz darauf erfuhr er, dass sie schwanger war. Er spielte wie ein Verrückter, verlor alles, und als er am Rand des Abgrunds stand, ging er zum Teufel und bot ihm das Letzte, was er hatte. Seine Seele.«