»Er ging zum Zwilling.«
»Ja. Simon war einer der wenigen, der wusste, wer der Zwilling war. Aber der Zwilling erfuhr nie, wer Simon und Ab waren, sie übermittelten ihm ihre Informationen immer nur per Telefon oder Brief. Später dann über den Computer.«
In der Stille, die folgte, hörten sie das Rauschen des Verkehrs auf dem Trondheimsveien und dem Sinsenkrysset.
»Simon und ich haben über alles geredet, weißt du. Aber dieser Punkt ist ihm verdammt schwergefallen. Wie er seine Seele verkauft hat. Andererseits meinte er, dass er sich diese Scham vielleicht wirklich gewünscht hatte, diese Demütigung, diese Selbstverachtung; sie bewirkte eine Taubheit in ihm, die den anderen Schmerz überlagerte. War eine Form von mentaler Selbstverletzung.«
Sie strich sich den Rock glatt, und Kari fiel auf, dass sie irgendwie dünn und zerbrechlich und doch auch stark wirkte.
»Am schlimmsten für Simon aber war das, was er Ab angetan hatte. Er hasste Ab, weil er ihm das Einzige genommen hatte, was jemals für ihn von Bedeutung gewesen war. Deshalb zog er ihn mit in den gleichen Abgrund. Ab und Helene hatten derart hohe Schulden, als die Bankenkrise kam und die Zinsen stiegen, dass nur eins sie davor bewahren konnte, nicht auf die Straße gesetzt zu werden, und das war schnelles Geld. Gleich nachdem Simon die Vereinbarung mit dem Zwilling getroffen hatte, ging er zu Ab und bot auf seine Seele. Zuerst weigerte Ab sich, er wollte Simon sogar anzeigen, doch dann traf Simon Abs Achillesferse. Seinen Sohn. Er argumentierte, dass die Welt nun einmal so sei und dass letztendlich sein Sohn mit einer Kindheit und Jugend in Armut den Preis für Abs weiße Weste zahlen müsse. Später hat er mir gesagt, es sei das Schlimmste gewesen zuzusehen, wie Ab innerlich aufgefressen wurde und immer mehr seine Seele verlor. Aber er habe sich dadurch auch weniger einsam gefühlt. Bis der Zwilling seinen Maulwurf an der Spitze der Polizei haben wollte und es keinen Platz mehr gab für zwei.«
»Warum erzählst du mir das, Else?«
»Weil er mich darum gebeten hat. Er meinte, du solltest das wissen, bevor du deine Entscheidung fällst.«
»Er hat dich gebeten, mir das zu erzählen? Heißt das, er wusste, dass …?«
»Ich weiß es nicht, Kari. Er hat nur gesagt, er habe in dir viel von sich selbst wiedererkannt. Er wollte, dass du aus den Fehlern lernst, die er als Polizist begangen hat.«
»Aber er wusste, dass ich gar nicht bei der Polizei bleibe.«
»Bleibst du nicht?« Das schräg einfallende Sonnenlicht glänzte matt in dem tiefroten Wein, als Else ihr Glas an die Lippen führte, vorsichtig einen Schluck trank und es wieder abstellte.
»Als Simon erkannte, dass Ab Lofthus bereit war, ihn zu töten, damit er den einen Platz bekam, nahm er mit dem Zwilling Kontakt auf und sagte, Ab müsse eliminiert werden, denn er sei ihm auf der Spur. Und Simon sagte, die Sache sei sehr dringend. Er gebrauchte ein Bild, als er mir das erzählte. Er sagte, Ab und er seien wie eineiige Zwillinge gewesen, die denselben Alptraum gehabt hätten; jeder wollte dem anderen das Leben nehmen. Deshalb kam er Ab zuvor. Simon hat seinen besten Freund getötet.«
Kari schluckte und kämpfte gegen die Tränen an. »Aber er hat es bereut«, flüsterte sie.
»Ja, er hat es bereut. Er hat als Maulwurf aufgehört. Er hätte weitermachen können. Aber dann starb auch Helene. Er war am Ende. Hatte alles verloren, was er verlieren konnte. Deshalb hatte er auch keine Angst mehr. Stattdessen nutzte er den Rest seines Lebens, um Buße zu tun. Und um alles wiedergutzumachen. Er war chancenlos bei seiner Jagd auf die anderen, die ebenso korrupt waren, wie er es gewesen war. So schafft man sich keine Freunde bei der Polizei. Er wurde einsam. Aber ohne Selbstmitleid, er meinte, er habe diese Einsamkeit verdient. Ich erinnere mich noch, wie er gesagt hat, der Selbsthass ist ein Hass, der jeden Morgen neue Nahrung findet, wenn man in den Spiegel schaut.«
»Du hast ihn gerettet, nicht wahr?«
»Er hat mich seinen Engel genannt. Aber es war nicht meine Liebe zu ihm, die ihn gerettet hat. Egal was all die klugen Menschen sagen, ich glaube nicht daran, dass auch nur ein Mensch dadurch gerettet wird, dass man ihn liebt. Es war Simons Liebe zu mir, die ihm geholfen hat. Er hat sich selbst gerettet.«
»Weil er deine Liebe erwidert hat.«
»Amen.«
Sie hatten bis Mitternacht zusammengesessen, bis Kari gegangen war.
Auf dem Weg durch das Haus, im Flur, hatte Else ihr eine Fotografie gezeigt. Drei Personen vor einer Steinpyramide.
»Simon hatte es bei seinem Tod bei sich. Das ist sie, Helene.«
»Ich habe das Bild von ihr in dem Haus gesehen, das später abbrannte. Ich habe Simon gesagt, dass sie mich an irgendeine Sängerin oder Schauspielerin erinnerte.«
»Mia Farrow. Er hat mich in Rosemaries Baby mitgenommen. Nur um sie zu sehen. Obwohl er behauptete, diese Ähnlichkeit selbst nicht zu erkennen.«
Das Bild rührte Kari auf seltsame Weise. Es hatte irgendwie mit dem Lächeln zu tun, es war so voller Optimismus, so voller Glauben. »Ihr habt nie an Kinder gedacht? Du und Simon?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte Angst.«
»Wovor?«
»Dass er seine eigenen Laster weitergeben könnte. Das Abhängigkeitsgen. Die destruktive Risikobereitschaft. Die Maßlosigkeit. Und die abgründige Seele. Er hatte wohl Angst davor, es könnte ein Sohn des Teufels werden. Ich habe ihn immer damit aufgezogen, dass er irgendwo ein Kind hatte und deshalb solche Angst. Aber es war so, wie es war.«
Kari nickte. Rosemaries Baby. Sie musste an die kleine alte Frau denken, die im Präsidium putzte und an deren Namen sie sich schließlich erinnert hatte.
Dann hatte sie sich verabschiedet und war hinaus in die Sommernacht getreten. Eine milde Brise – und dann die Zeit – hatte sie gefangen genommen, entführt und aus der Fassung gebracht, bis sie schließlich hier saß, in einem Auto, und auf den Neuschnee starrte und sich darüber wunderte, wie sehr er die Landschaft veränderte. Wie oft entwickelten sich die Dinge ganz anders, als man sie geplant hatte. Wie dass sie und Sam bereits jetzt ihr erstes Kind bekommen sollten.
Und zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie das erste fachlich interessante Jobangebot im Justizministerium abgelehnt und erst kürzlich die hochdotierte Stelle bei der Versicherung.
Erst als sie aus der Stadt herausgefahren waren, die schmale Brücke überquert hatten und auf die Schotterstraße kamen, fragte sie Åsmund, was denn passiert sei.
»Die Polizei in Drammen hat angerufen und unsere Unterstützung angefordert«, sagte Åsmund. »Der Tote ist Reeder. Yngve Morsand.«
»Moment, ist das nicht der Ehemann?«
»Ja.«
»Mord? Selbstmord?«
»Genaues weiß ich nicht.«
Sie parkten den Wagen hinter den Einsatzfahrzeugen, gingen durch das Tor im Staketenzaun und dann durch die Tür in das große Haus. Ein Hauptkommissar aus dem Polizeidistrikt Buskerud empfing sie, umarmte Kari und stellte sich Åsmund als Henrik Westad vor.
»Kann es Selbstmord sein?«, fragte Kari auf dem Weg ins Zimmer.
»Warum glauben Sie das?«, fragte Westad.
»Trauer um seine Frau«, sagte Kari. »Oder weil er unter diesem Verdacht stand? Oder er hat sie selber getötet und konnte damit nicht mehr leben.«
»Möglich …«, sagte Westad und führte sie ins Wohnzimmer. Die Leute der Spurensicherung krochen fast über den Mann in dem Sessel. Wie weiße Maden, dachte Kari.
»… ich bezweifle das aber«, sagte Westad abschließend.
Kari und Bjørnstad starrten den Toten an.
»Verdammt«, sagte Bjørnstad leise zu Kari. »Glaubst du … er …?«
Kari musste an das hartgekochte Ei denken, das sie zum Frühstück gegessen hatte. Oder war sie schon schwanger? War ihr deshalb übel? Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Leiche. Ein Auge des Mannes war aufgerissen, eine Augenklappe vor dem anderen und darüber eine unebene Schnittfläche. Jemand hatte ihm den oberen Teil des Schädels abgesägt.