»Und trotzdem …«, sagte der Polizist. »Wollte er euch wirklich alles vermachen?«
Martha zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass er viel hatte. Aber haben Sie das Datum der Unterschrift gesehen?«
»Er hat das gestern geschrieben. Meinen Sie, er wusste, dass er bald sterben würde? Wollen Sie damit andeuten, dass er sich das Leben genommen hat?«
Martha horchte in sich hinein. »Ich weiß es nicht.«
Die große, hagere Frau räusperte sich. »Eine Ehekrise ist bei Männern über vierzig nicht selten der Grund für einen Selbstmordversuch.«
Martha hatte das Gefühl, dass die wortkarge Frau die exakten Zahlen im Kopf hatte.
»Wirkte er deprimiert?«, fragte Simon.
»Eher niedergeschlagen als deprimiert.«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass selbstmordgefährdete Menschen ihrem Leben ein Ende setzen, wenn sie auf dem Weg aus einer Depression sind«, sagte die Frau und klang so, als zitierte sie aus einem Buch. Die beiden anderen sahen sie an. »Die eigentliche Depression äußert sich häufig durch Apathie, während man für einen Selbstmord eine gewisse Energie braucht.« Ein leiser Klingelton signalisierte, dass sie eine SMS erhalten hatte.
Kefas wandte sich an Martha. »Ein älterer Mann, der zu Hause rausfliegt und eine Art Abschiedsbrief an Sie schreibt. Warum kein Selbstmord?«
»Ich habe nicht gesagt, dass es kein Selbstmord war.«
»Aber.«
»Er schien Angst zu haben.«
»Angst wovor?«
Martha zuckte mit den Schultern und fragte sich, ob sie sich gerade unnötig in Schwierigkeiten brachte.
»Per war ein Mann mit dunklen Seiten. Er war ziemlich offen, was das anging. Er hat mal gesagt, dass er Pastor geworden ist, weil er mehr Vergebung als die meisten anderen bräuchte.«
»Sie meinen, dass er Dinge gemacht hat, die ihm nicht jeder verzeihen würde?«
»Die ihm niemand verzeihen würde.«
»Aha, reden wir von der Art von Sünde, bei denen Pastoren generell überrepräsentiert sind?«
Martha antwortete nicht.
»Ist er deshalb auch zu Hause rausgeflogen?«
Martha zögerte. Dieser Mann war taffer als viele seiner Kollegen. Aber konnte sie ihm trauen?
»Bei meiner Arbeit lernt man, das Unverzeihliche zu verzeihen, Herr Kommissar. Es kann natürlich sein, dass Per das nicht möglich war und er deshalb diesen Weg gegangen ist. Es ist aber auch möglich …«
»… dass andere, zum Beispiel der Vater eines Kindes, das Opfer eines Übergriffs geworden ist, es nicht auf eine Anklage ankommen lassen wollte, damit sein Kind nicht auch noch stigmatisiert wird. Außerdem führt ein Prozess ja nicht automatisch zu einer Verurteilung, und wenn, dann zu einer lächerlichen Strafe. Vielleicht hat der Betreffende sein eigenes Urteil gefällt und die Strafe gleich vollstreckt.«
Martha nickte. »Wenn es um das eigene Kind geht, wäre das menschlich nachvollziehbar, denke ich. Kommt es nicht auch vor, dass Sie bei Ihrer täglichen Arbeit strafen, wenn das Gesetz nicht greift?«
Simon Kefas schüttelte den Kopf. »Nein. Würden wir als Polizisten dieser Art von Versuchung erliegen, hätten Gesetze keine Bedeutung mehr. Und ich glaube wirklich an unsere Gesetze und daran, dass Justitia blind sein muss. Haben Sie jemand Konkreten in Verdacht?«
»Nein.«
»Drogenschulden?«, fragte Kari Adel.
Martha schüttelte den Kopf. »Wenn er Drogen genommen hätte, wüsste ich das.«
»Ich frage das, weil ich einen der Drogenfahnder per SMS nach Per Vollan gefragt habe. Und er hat mir geantwortet …« Sie zog das Handy aus ihrer engen Jackentasche, wobei auch eine Murmel herausrutschte, auf den Boden fiel und gen Osten rollte.
»Hab ihn ein paarmal im Gespräch mit Medels Dealer gesehen«, las sie vor und stand auf, um die noch rollende Murmel aufzuheben. »Er hat Quads gekriegt, aber nie dafür bezahlt.« Kari Adel steckte das Telefon zurück in die Tasche und fischte die Murmel vom Boden, bevor sie die Wand erreichte.
»Und was schließen Sie daraus?«, fragte Simon.
»Dass das Haus in Richtung Alexander Kiellands plass abfällt. Vermutlich ist auf der Seite mehr Lehm und Ton als Granit.«
Martha lachte laut.
Die große, hagere Frau lächelte kurz. »Und dass Vollan Schulden hatte. Ein Briefchen Heroin kostet dreihundert Kronen, und das ist noch nicht mal ein Quad, sondern bloß null Komma zwei. Zwei Briefchen am Tag …«
»Nicht so schnell«, sagte Simon. »Drogenabhängige kriegen keinen Kredit, oder?«
»In der Regel nicht, vielleicht hat er irgendwelche Dienste übernommen und sich in Heroin bezahlen lassen?«
Martha hob die Hand. »Er hat keine Drogen genommen, das habe ich Ihnen doch schon gesagt! Mein Job besteht zu großen Teilen darin zu sehen, ob jemand unter Drogen steht oder clean ist, verstanden?«
»Sie haben natürlich recht, Fräulein Lian«, sagte Simon und rieb sich das Kinn. »Vielleicht war das Heroin ja nicht für ihn selbst.«
Er stand auf. »Wie auch immer. Wir müssen abwarten, was die Obduktion ergibt.«
»Gute Idee, diesem Drogenfahnder zu simsen«, sagte Simon, während er über die Uelands gate in Richtung Zentrum fuhr.
»Danke«, sagte Kari.
»Hübsche Frau, diese Martha Lian. Hatten Sie früher schon mit ihr zu tun?«
»Nein, aber ich hätte sie nicht von der Bettkante gestoßen.«
»Was?«
»Tut mir leid, ein blöder Witz. Nur weil Sie fragten, ob ich schon mit ihr zu tun gehabt hätte. Bloß am Rande. Sie ist wirklich attraktiv, ich habe mich immer gefragt, warum sie im Hospiz arbeitet.«
»Weil sie schön ist?«
»Gutes Aussehen verschafft Menschen mit ansonsten passabler Intelligenz und einigermaßen gutem Auftreten einen klaren Vorteil im Arbeitsleben. Und der Job im Ila ist wohl nicht gerade ein Sprungbrett für Höheres, um das mal so zu sagen.«
»Vielleicht denkt sie ganz einfach, dass diese Arbeit ihren Einsatz wert ist.«
»Wert. Wissen Sie, was Sie da verdient …?«
»Wert, gemacht zu werden. Unsere Arbeit bei der Polizei wird auch nicht gut bezahlt.«
»Stimmt.«
»Aber es ist ein guter Ort, um seine Karriere zu beginnen, wenn man noch ein Jurastudium dranhängt«, sagte Simon. »Wann sind Sie fertig mit dem zweiten Studium?«
Er sah den Anflug von Rot an Karis Hals und wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
»Na ja«, sagte Simon. »Schön, Sie vorübergehend ausleihen zu dürfen. Dann sind Sie bestimmt bald meine Chefin, nicht wahr? Oder zieht es Sie eher in den privaten Sektor, da soll man mit unserer Kompetenz ja anderthalbmal so viel verdienen?«
»Möglich«, sagte Kari. »Ich werde aber wohl kaum Ihre Chefin werden, schließlich sind Sie im März nächsten Jahres pensioniert.«
Simon wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er bog nach links in den Grønlandsleiret ein und fuhr zum Präsidium.
»Anderthalbfacher Lohn ist nicht schlecht, wenn man renovieren muss, Wohnung oder Haus?«
»Haus«, sagte Kari. »Wir wollen zwei Kinder, und ich brauche Platz. Bei dem Quadratmeterpreis im Zentrum von Oslo muss man ziemlich baufällige Häuser kaufen, wenn man nicht gerade geerbt hat. Und sowohl meinen als auch Sams Eltern geht es noch sehr gut. Außerdem sind wir beide der Meinung, dass Subventionen korrumpieren.«
»Korrumpieren? So schlimm?«
»Ja.«
Simon sah zu den pakistanischen Händlern hinüber, die bei der Sommerwärme ihre Läden verlassen hatten und auf der Straße diskutierten. Sie rauchten und sahen den Autos nach, die sich langsam vorbeischoben. »Sie wundern sich nicht einmal, wie ich darauf gekommen bin, dass Sie auf der Suche nach einem alten Haus sind?«