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Sie blieben am Wachhäuschen stehen. Einar Harnes zeigte seinen Ausweis, und die Schranke hob sich. Franck stellte den Cayenne auf den für ihn reservierten Platz und ging gemeinsam mit Harnes zum Haupteingang, wo der Anwalt registriert wurde. Gewöhnlich betraten sie das Gefängnis durch den Eingang an der Garderobe, um die Registrierung zu vermeiden. Franck wollte dem Gerede aus dem Weg gehen, was ein Rechtsanwalt mit Harnes’ Ruf so oft im Staten zu tun haben könnte.

Die Verhöre der Insassen fanden in der Regel im Präsidium statt, doch da der Häftling in der Isolation saß, hatte Franck um ein Verhör im Gefängnis gebeten.

Eine Zelle war zu diesem Zweck ausgeräumt und für das Verhör vorbereitet worden. Am Tisch saßen ein Polizist und eine Beamtin in Zivil. Franck hatte sie schon einmal gesehen, erinnerte sich aber nicht an ihren Namen. Die Gestalt auf der anderen Seite des Tisches war so blass, dass sie sich kaum von der gekalkten Wand abhob. Den Kopf hielt sie gesenkt, und ihre Hände klammerten sich an die Tischplatte, als hätte der Raum Schlagseite.

»Nun, Sonny«, sagte Harnes munter und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. »Bist du bereit?«

Die Polizistin räusperte sich. »Die Frage ist wohl eher, ob er nicht schon fertig ist.«

Harnes lächelte dünn und zog eine Augenbraue hoch. »Wie meinen Sie das denn? Sie haben das Verhör doch wohl nicht ohne seinen Anwalt begonnen?«

»Er hat von sich aus gesagt, dass er nicht auf Sie warten wollte«, sagte der Polizist.

Franck sah zu Sonny und hatte plötzlich ein ungutes Gefühl.

»Dann hat er gestanden?«, seufzte Harnes, öffnete seinen Koffer und nahm drei zusammengeheftete Blätter heraus. »Wenn Sie sein Geständnis schriftlich wollen, habe ich hier …«

»Im Gegenteil«, sagte die Polizistin. »Er hat abgestritten, irgendetwas mit diesem Mord zu tun zu haben.«

Mit einem Mal war es so still, dass Franck die Vögel draußen vor den Mauern des Staten singen hörte.

»Er hat was?« Harnes’ Augenbraue schob sich immer weiter in Richtung Haaransatz. Franck wusste nicht, was ihn mehr aufregte, die gezupften Augenbrauen des Anwalts oder die Trägheit, mit der dieser die aufziehende Katastrophe kommen sah.

»Hat er sonst noch was gesagt?«, fragte Franck.

Die Polizistin sah von dem stellvertretenden Gefängnisleiter zum Anwalt.

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Harnes. »Es war mein Wunsch, dass er dabei ist, sollten Sie Informationen über den Freigang brauchen.«

»Ja, denn diesen Freigang habe ich persönlich genehmigt«, sagte Franck. »Es hat ja nichts darauf hingedeutet, dass der in ­einer solchen Tragödie enden würde.«

»Nun, ob das wirklich so war, wissen wir noch nicht«, sagte die Polizistin. »Schließlich haben wir noch kein Geständnis.«

»Aber die Indizien …«, warf Arild Franck ein und bremste sich sofort.

»Was wissen Sie denn über die Indizien?«, fragte der Polizist.

»Ähem, ich bin davon ausgegangen, dass es die geben muss«, sagte Franck. »Weil er doch verdächtigt wurde. Ist dem nicht so, Herr …?«

»Hauptkommissar Henrik Westad«, sagte der Polizist. »Ich habe auch Lofthus’ erste Aussage aufgenommen. Er hat diese entscheidend revidiert und beteuert jetzt, sogar ein Alibi für den Zeitpunkt des Mordes zu haben. Einen Zeugen.«

»Er hat einen Zeugen«, sagte Harnes und starrte seinen schweigenden Klienten an. »Den Gefängnisangestellten, der ihn während des Freigangs begleitet hat. Und dieser Zeuge sagt aus, dass sich Lofthus abgesetzt hat, als …«

»Einen anderen Zeugen«, sagte Westad.

»Und wer soll das bitte sein?«, schnaubte Franck.

»Ein Mann namens Leif.«

»Leif, und wie weiter?«

Alle vier starrten den langhaarigen jungen Mann an, der sie weder zu hören noch zu sehen schien.

»Das weiß er nicht«, sagte Westad. »Er hat ausgesagt, sie hätten nur ein paar Sekunden auf einem Rastplatz an der Autobahn miteinander geredet. Der Zeuge soll einen blauen Volvo mit einem ›I love Drammen‹-Sticker fahren. Und Sonny glaubt, dass dieser Zeuge krank ist, dass er irgendetwas am Herzen hat.«

Franck lachte bellend.

»Ich glaube«, sagte Einar Harnes mit mühsam erkämpfter Ruhe und legte die Blätter zurück in seinen Aktenkoffer, »wir sollten jetzt hier aufhören, damit ich mich mit meinem Klienten beraten kann.«

Franck hatte die Angewohnheit zu lachen, wenn er wütend wurde. Und jetzt brodelte die Wut in ihm wie das Wasser in einem Wasserkocher. Er musste sich wirklich zusammenreißen und starrte den sogenannten Klienten an. Der Kerl musste verrückt geworden sein. Erst den alten Halden zusammenschlagen und dann das hier. Hatte ihm das Heroin ein Loch ins Hirn gefressen? Er würde es nicht zulassen, dass dieser Junkie ihnen ­alles kaputtmachte, dafür war das viel zu groß. Franck atmete tief ein und hörte ein imaginäres Klicken, der Wasserkocher schaltete sich aus. Es galt, einen klaren Kopf zu behalten und Zeit zu gewinnen. Sie mussten den Entzug wirken lassen.

Simon stand auf der Sannerbrua und blickte auf das Wasser, das acht Meter unter ihm hindurchfloss. Es war sechs Uhr abends, und Kari Adel hatte ihn gerade gefragt, wie sie das im Morddezernat mit den Überstunden regelten.

»Keine Ahnung«, sagte Simon. »Da müssen Sie mit dem Personalchef reden.«

»Sehen Sie da unten was?«

Simon schüttelte den Kopf. Hinter dem Laub auf der Ostseite des Akerselva konnte man den Pfad erkennen, der dem Flusslauf bis hinunter zur neuen Oper am Fjord folgte. Ein Mann saß auf einer Bank und fütterte die Tauben. Rentnerdasein, dachte Simon. So sah der Alltag aus, wenn man erst pensioniert war. Auf der Westseite stand ein modernes Mietshaus mit Fenstern und Balkonen zur Flussseite.

»Und warum stehen wir dann hier?« Kari trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Haben Sie noch was vor?«, fragte Simon und drehte sich um. Ein paar Autos fuhren langsam vorbei, und ein Bettler fragte lächelnd, ob ihm jemand einen Zweihunderter wechseln könnte. Ein junges Pärchen, mit einem Einweggrill im Kinderwagennetz, ging lachend vorbei. Er liebte den Sommer in Oslo, die ­Ferienzeit, wenn die Stadt sich leerte und zu seiner Stadt wurde. Wenn er plötzlich das etwas aus den Fugen geratene Dorf wiedererkannte, in dem er aufgewachsen war. Ein Ort, an dem nicht viel geschah; an dem alles, was geschah, eine Bedeutung hatte. Ein Ort, den er verstand.

»Wir sind bei guten Freunden zum Essen eingeladen.«

Freunde, dachte Simon. Er hatte auch einmal Freunde gehabt. Aber wo waren sie geblieben? Vielleicht fragten sie sich das Gleiche, wenn sie an ihn dachten. Wo war er geblieben? Er wusste nicht, ob er ihnen eine vernünftige Antwort hätte geben können.

Der Fluss war hier kaum mehr als einen halben Meter tief. An manchen Stellen ragten die Steine sogar aus dem Wasser. Im Obduktionsbericht waren Wunden erwähnt worden, die darauf hindeuteten, dass das Opfer aus einer gewissen Höhe gestürzt war. Das passte auch zu dem gebrochenen Genick, der eigentlichen Todesursache.

»Wir stehen hier, weil wir inzwischen den gesamten Fluss abgesucht haben, und diese Brücke die einzige Stelle ist, die in Frage kommt. Sie ist hoch genug, und der Fluss ist so flach, dass Vollan hart auf den Steinen aufgeschlagen sein muss. Außerdem ist es nicht weit bis zum Hospiz.«

»Zum Wohn- und Pflegeheim«, sagte Kari.

»Würden Sie an so einer Stelle Selbstmord begehen?«

»Nein.«

»Ich meine, sollten Sie vorhaben, sich das Leben zu nehmen.«

Kari hörte auf, von einem Fuß auf den anderen zu treten, und blickte über das Geländer.

»Ich hätte mir etwas Höheres gesucht, hier sind die Chancen, zu überleben und im Rollstuhl zu landen, viel zu groß.«

»Dann würden Sie hier aber auch niemanden über das Geländer stoßen, den Sie umbringen wollen?«

»Nee, wohl nicht«, sagte sie mit einem Gähnen.

»Dann suchen wir nach jemandem, der Per Vollan erst das Genick gebrochen und ihn dann in den Fluss geworfen hat.«