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»Ist das Ihre Hypothese?«

»Nein, das ist unsere Hypothese. Dieses Essen …«

»Ja?«

»Sie sollten Ihren Lebensgefährten anrufen und absagen.«

»Hä?«

»Wir müssen nach möglichen Zeugen suchen. Sie sollten mit denen beginnen, die Balkone zum Fluss haben. Und dann müssen wir das Archiv nach potentiellen Genickbrechern durchkämmen.« Simon schloss die Augen und sog die Luft ein. »Ist Oslo im Sommer nicht toll?«

Kapitel 9

Einar Harnes hatte nie vorgehabt, die Welt zu retten. Allenfalls einen kleinen Teil davon. Genauer gesagt, seinen Teil. Deshalb hatte er auch Jura studiert. Ein bisschen. Genau so viel, wie er für sein Examen brauchte. Er war in einer Kanzlei angestellt worden, die in der absolut untersten Liga der Osloer Kanzleien operierte, und hatte dort exakt so lange gearbeitet, bis er seine Zulassung bekommen hatte. Danach hatte er mit dem meist alkoholisierten und nicht mehr ganz jungen Erik Fallbakken eine eigene Firma gegründet, die die unterste Liga der Osloer Kanzleien fortan neu definierte. Sie hatten die unmöglichsten Fälle angenommen, alle verloren, aber sich trotzdem seltsamerweise den Ruf als Verteidiger der Ärmsten der Armen erworben, der Elendsten der Gesellschaft. Und dadurch Zugang zu einer Klientel bekommen, die ihre Rechnungen bei der Kanzlei Harnes und Fallbakken in der Regel dann zahlte, wenn die Sozialhilfe ausbezahlt wurde. Einar Harnes hatte früh erkannt, dass er nicht der Gerechtigkeit diente, sondern eher eine etwas teurere Alternative darstellte zu Geldeintreibern, Arbeitsämtern und Wahrsagerinnen. Er drohte denen mit Klagen, die zu bedrohen er bezahlt wurde, verschaffte den hoffnungslosesten Existenzen der Stadt Arbeitsplätze auf Mindestlohnbasis und versprach finanzkräftigen Klienten das Blaue vom Himmel, wenn sie sich durch sie vertreten ließen. Am Leben gehalten wurde die Kanzlei aber von einem einzigen Mandanten. Und zu diesem gab es keinerlei Akten im Kanzleiarchiv, wollte man das umfassende Chaos in den Schränken der beinahe dauerkrankgeschriebenen Anwaltsgehilfin denn als Archiv bezeichnen. Dieser Mandant zahlte zuverlässig, in der Regel in bar und verlangte nie eine Rechnung. Und das würde auch für die nächsten Stunden gelten.

Sonny Lofthus saß mit überkreuzten Beinen auf dem Bett. Aus seinen Augen sprach blanke Verzweiflung. Seit dem denkwür­digen Verhör waren sechs Tage vergangen, und der junge Mann musste eine harte Zeit hinter sich haben. Er hatte aber länger durchgehalten, als sie erwartet hatten. Die Berichte der anderen Insassen, zu denen Harnes Kontakt hatte, waren bemerkenswert. Sonny hatte nicht einmal versucht, in den Besitz von Drogen zu kommen, sondern stattdessen alle Angebote von Speed oder Hasch ausgeschlagen. Er war sogar im Trainingsraum auf dem Laufband gesichtet worden. Zwei Stunden sollte er durchgehalten und dann sogar noch eine Stunde Gewichte gestemmt haben. Nachts waren aus seiner Zelle Schreie zu hören gewesen. Aber er hatte standgehalten. Ein junger Mann, der zwölf Jahre das große H genommen hatte. Harnes hatte so etwas nur bei Menschen erlebt, die die Drogen durch etwas ebenso Starkes, ebenso Stimulierendes ersetzt hatten. In Frage kam da nicht viel. Bei manchen war es eine religiöse Offenbarung, bei anderen die Liebe oder Kinder. Ein plötzliches Ziel, das dem Leben einen neuen und anderen Sinn gab. Mitunter war es aber auch nur das letzte Aufbäumen eines Ertrinkenden gewesen. In nur einer Hinsicht war Einar Harnes sich sicher, dass sein Mandant Antworten erwartete. Falsch, nicht Antworten, Resultate.

»Es gibt Indizien, Sonny, du wirst also verurteilt werden, ob du nun gestehst oder nicht. Warum die Qualen also unnötig verlängern?«

Keine Antwort.

Harnes fuhr sich mit der Hand so fest über seine nach hinten gekämmten Haare, dass es am Haaransatz schmerzte. »Ich kann dir binnen einer Stunde ein Briefchen Superboy besorgen, was also ist das Problem? Ich brauche nur deine Unterschrift.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die drei A4-Zettel auf dem Aktenkoffer, der auf seinen Knien lag.

Der junge Mann versuchte, seine trockenen, aufgesprungenen Lippen zu benetzen. Seine Zunge war so weiß, dass Harnes unwillkürlich an Salzablagerungen dachte.

»Danke, ich werde darüber nachdenken.«

Danke? Nachdenken? Verdammt, er bot einem Junkie, der im höchsten Maße auf Turkey war, Drogen an! Hatte der Mann die Schwerkraft aufgehoben?

»Hör mal, Sonny …«

»Und danke für Ihren Besuch.«

Harnes schüttelte den Kopf und stand auf. Der hielt das doch niemals durch. Er musste noch einen Tag warten. Bis das Wunder vorüber war.

Nachdem Harnes von einem Wärter durch alle Türen und Schleusen bis zum Empfang gelotst worden war, wo er sich ein Taxi rufen ließ, befiel ihn die Sorge, was sein Mandant sagen würde. Was würde er tun, wenn er, Harnes, nicht die Welt rettete.

Also seinen Teil der Welt.

Geir Goldsrud beugte sich auf dem Stuhl vor und starrte auf den Monitor.

»Was zum Henker macht der da?«

»Sieht aus, als wollte er Kontakt zu jemandem«, sagte einer der anderen Wachleute.

Goldsrud starrte auf den jungen Mann. Der lange Bart hing ihm bis auf die nackte Brust. Er war vor der Überwachungskamera auf einen Stuhl geklettert und klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Linse, während er mit den Lippen unverständliche Worte mimte.

»Finstad, komm mit«, sagte Goldsrud und stand auf. Auf dem Flur kamen sie an Johannes vorbei, der den Boden wischte.

Die Szene erinnerte Goldsrud an etwas, möglicherweise an eine Szene aus einem Film, den er gesehen hatte. Sie gelangten über die Treppe nach unten, verschafften sich Zutritt zum Zellentrakt, gingen durch die gemeinsame Küche und fanden Sonny im Gang auf dem Stuhl sitzend, auf dem er gerade noch gestanden hatte.

Goldsrud erkannte an Oberkörper und Armen des Häftlings, dass er gerade erst trainiert haben musste. Muskeln und Adern zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Er hatte gehört, dass einige der hartgesottensten Junkies im Trainingsraum Gewichte stemmten, bevor sie sich ihre Spritzen setzten. Amphetamin und alle möglichen Pillen waren im Umlauf, aber das Staten war eines der wenigen, vielleicht das einzige Gefängnis in Norwegen, wo es eine weitreichende Kontrolle über die Einfuhr von ­Heroin gab. Trotzdem schien es so, als wäre es für Sonny nie ein Problem gewesen, sich seine Drogen zu beschaffen. Bis auf die letzten Tage. Goldsrud konnte am Zittern des Mannes erkennen, dass er seine Medizin schon eine Weile nicht mehr bekommen hatte. Kein Wunder, dass er verzweifelt war.

»Helfen Sie mir«, flüsterte Sonny, als er sie kommen sah.

»Aber natürlich«, sagte Goldsrud und zwinkerte Finstad zu. »Zweitausend für ein Quad.«

Es war als Witz gedacht, aber Finstads Miene verriet eine gewisse Unsicherheit.

Sonny schüttelte den Kopf. Sogar die Muskeln an Hals und Nacken waren angespannt. Goldsrud hatte gehört, dass der Junge mal ein vielversprechender Ringer gewesen sein sollte. Vielleicht stimmte es ja, dass man sich die Muskeln, die man vor seinem zwölften Lebensjahr aufgebaut hatte, ein Leben lang immer wieder schnell antrainieren konnte.

»Schließen Sie mich ein.«

»Wir schließen erst um zehn Uhr abends, Lofthus.«

»Bitte.«

Goldsrud stutzte. Eigentlich baten Insassen nur darum, eingeschlossen zu werden, wenn sie Angst hatten. Ob berechtigt oder nicht. Angst war eine ziemlich normale Nebenwirkung eines kriminellen Daseins. Oder umgekehrt. Aber Sonny war vermutlich der Einzige im Staten, der unter den anderen Häftlingen keine Feinde hatte. Im Gegenteil, sie behandelten ihn wie eine heilige Kuh. Er hatte nie auch nur einen Anflug von Angst gezeigt, und Körper und Geist schienen auch die Drogen besser wegzustecken, als das bei anderen der Fall war. Warum also …?

Der Junge kratzte sich den Schorf auf den Einstichstellen an seinen Unterarmen auf, und mit einem Mal verstand Goldsrud. Alle Einstichstellen waren von Schorf bedeckt. Keine dieser Stellen war frisch. Sonny hatte aufgehört. Deshalb wollte er eingeschlossen werden. Er hatte Angst vor seiner eigenen Sucht und wusste genau, dass er das nächste Angebot annehmen würde, egal, was es war.