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»Komm«, sagte Goldsrud.

»Nimmst du mal deine Beine weg, Simon?«

Simon blickte auf. Die alte Putzfrau war so krumm, dass sie ihren Putzwagen kaum überragte. Sie hatte schon im Präsidium geputzt, als Simon irgendwann im letzten Jahrtausend dort angefangen hatte. Eine Frau mit der unumstößlichen Einstellung, dass eine Putzfrau genau das war, was die Berufsbezeichnung versprach, egal ob Mann oder Frau.

»Hallo, Sissel, schon da?« Simon sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Die offizielle Arbeitszeit war damit bereits beendet, und die norwegischen Arbeitsschutzgesetze forderten mit allem Nachdruck, dass man der eigenen Gesundheit und dem Wohle des Vaterlandes zuliebe dann auch nach Hause gehen sollte. Normalerweise kümmerte Simon sich nicht um diese Regeln, doch heute war das anders. Er wusste, dass Else wartete. Sie hatte schon vor Stunden mit dem Kochen angefangen, würde aber trotzdem, wenn er nach Hause kam, behaupten, dass sie nur schnell etwas aus dem Ärmel geschüttelt habe. Und dabei hoffen, dass er das Chaos in der Küche nicht bemerkte. All die Beweise, dass ihre Augen noch schlechter geworden waren.

»Wir haben lange keine Zigarette mehr zusammen geraucht, Simon.«

»Ich nehme jetzt Snus.«

»Wegen deiner jungen Frau? Noch immer keine Kinder?«

»Noch immer nicht pensioniert, Sissel?«

»Oder hast du schon irgendwo ein Kind, willst du deshalb keine mehr?«

Simon musterte sie lächelnd, während sie den Mopp unter seinen Füßen hindurchzog. Wieder fragte er sich, wie es einer derart kleinen Person wie Sissel Thou möglich gewesen war, einen derart großen Nachkommen herauszupressen. Rosemaries Baby. Er räumte seine Unterlagen weg. Sie hatten den Vollan-Fall auf Eis gelegt. Niemand im Mietshaus an der Sannerbrua hatte etwas gesehen, und es hatten sich auch keine anderen Zeugen gemeldet. Solange sie sich nicht wirklich sicher waren, dass ein Verbrechen vorlag, konnten sie die Sache nicht vorrangig behandeln, hatte der Dezernatsleiter gesagt. Er hatte Simon gebeten, sich in den nächsten Tagen darum zu kümmern, die Berichte zu zwei noch ungeklärten Mordfällen zu ergänzen. Die Staatsanwältin hätte sie als »etwas mager« bezeichnet und sich eine »gründlichere Ausarbeitung der Details« gewünscht. Dabei hatte sie gar keine formalen Fehler gefunden.

Simon schaltete den PC aus, warf sich die Jacke über und ging in Richtung Ausgang. Es war immer noch Sommer. Viele, die nicht in den Ferien waren, gingen bereits um drei. Es war warm, und in dem Großraumbüro, in dem nur das Klappern weniger Tastaturen zu hören war, roch es nach dem von der Sonne aufgewärmten Leim der Trennwände. Hinter einer Wand entdeckte er Kari. Sie hatte die Füße auf den Tisch gelegt und las ein Buch. Er steckte den Kopf zu ihr hinein.

»Heute kein Essen mit Freunden?«

Sie klappte das Buch automatisch zu und sah mit einer Mischung aus Scham und Verärgerung zu ihm hoch. Öffentliches Recht stand auf dem Umschlag. Er wusste, dass sie wusste, dass sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, wenn sie im Dienst Jura lernte. Schließlich war ihr keine sinnvolle Aufgabe zugeteilt worden. Es lag in der Natur der Sache, dass man im Morddezernat nichts zu tun hatte, wenn niemand ermordet wurde. Das schlechte Gewissen kam wohl also eher daher, dass ihr Jurastudium sie von hier wegbringen würde und sie damit ihrem Arbeitgeber gegenüber eine gewisse Illoyalität erkennen ließ. Und ihre Verärgerung war vermutlich gegen sie selbst gerichtet, da sie das Buch sofort zugeklappt hatte, obwohl sie ja eigentlich gar kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte.

»Sam ist über das Wochenende zum Surfen an der Westküste. Ich dachte, ich lerne heute mal hier statt zu Hause.«

Simon nickte. »Unser Job ist nicht immer so spannend. Nicht mal hier im Morddezernat.«

Sie sah ihn an.

Simon zuckte mit den Schultern. »Gerade hier im Morddezernat nicht.«

»Und warum sind Sie dann Ermittler geworden?«

Sie hatte die Schuhe abgestreift und zog die nackten Füße unter sich auf den Stuhl. Als erwartete sie eine ausführlichere Antwort, dachte Simon. Vermutlich gehörte sie zu den Menschen, die jede Art von Gesellschaft dem Alleinsein vorzogen. Deshalb lernte sie auch hier statt zu Hause, wo sie garantiert Ruhe und Frieden hatte.

»Ob Sie es glauben oder nicht, aber das war eine Art Widerstand, eine Revolte«, sagte er und setzte sich auf die Tischkante. »Mein Vater war Uhrmacher und wollte, dass ich das Geschäft übernehme. Ich wollte aber keine schlechte Kopie von ihm werden.«

Kari schlug die Arme um ihre langen Insektenbeine. »Haben Sie das jemals bereut?«

Simon sah zum Fenster. Draußen flimmerte die Wärme.

»Mit Uhren sind Menschen reich geworden.«

»Mein Vater nicht«, erwiderte Simon. »Auch er mochte keine Kopien. Hat sich geweigert, den Trend der Billiguhren oder dieser digitalen Plastikmonster mitzumachen. Er hielt das alles nur für den Weg des geringsten Widerstands. Es wurde ein stiller Konkurs.«

»Tja, dann verstehe ich, dass Sie kein Uhrmacher werden wollten.«

»Ich wäre trotzdem fast so etwas geworden.«

»Wie das?«

»Kriminaltechnik. Ballistikexperte. Flugbahnen und so etwas. Fast das Gleiche wie Uhren zusammenschrauben. Wir sind denen, von denen wir abstammen, unter Umständen ähnlicher, als uns lieb ist.«

»Und was ist dann passiert?« Sie lächelte. »Sind Sie auch in Konkurs gegangen?«

»Tja.« Er sah auf die Uhr. »Irgendwann hat mich das Warum ein bisschen mehr interessiert als das Wie. Aber ich weiß nicht, ob die Entscheidung, taktischer Ermittler zu werden, so gut war. Kugeln und Schusswunden sind weniger beunruhigend als das menschliche Hirn.«

»Und dann sind Sie zur Wirtschaftskriminalität gewechselt?«

»Sie kennen meinen Lebenslauf aber gut.«

»Man erkundigt sich über Menschen, mit denen man eng zusammenarbeiten muss. Waren Sie das Blut und die Morde leid?«

»Nein, aber ich fürchtete, Else, meiner Frau, könnte es so gehen. Vor unserer Hochzeit habe ich ihr geregeltere Arbeitszeiten und einen weniger schrecklichen Alltag versprochen. Es ging mir gut im Dezernat für Wirtschaftskriminalität. Es war ein bisschen so, wie mit Uhren zu arbeiten. Apropos Frau …« Er stand auf.

»Warum haben Sie da aufgehört, wenn es Ihnen gefallen hat?«

Simon lächelte müde. Darüber stand nichts in seinem Lebenslauf.

»Lasagne. Ich glaube, sie macht heute Lasagne. Dann sehen wir uns morgen.«

»Es hat mich übrigens einer meiner alten Kollegen angerufen. Er hat mir erzählt, dass einer der alten Junkies mit einem Pastorenkragen herumläuft.«

»Einem Pastorenkragen?«

»Ja, wie Per Vollan ihn getragen hat.«

»Wie haben Sie darauf reagiert?«

Kari schlug das Buch wieder auf. »Gar nicht. Ich habe ihm gesagt, der Fall sei auf Eis gelegt worden.«

»Nicht ganz, nur nicht mehr erste Priorität. Wie heißt der Junkie und wo hält er sich auf?«

»Gilberg, im Hospiz.«

»Sie meinen das Wohn- und Pflegeheim. Wie wäre es mit einer Lernpause?«

Kari schlug das Buch seufzend zu. »Und was ist mit der La­sagne?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Schon okay. Ich rufe Else an, sie versteht das. Lasagne schmeckt ohnehin am besten aufgewärmt.«

Kapitel 10

Johannes kippte den Eimer im Waschbecken aus und stellte den Wischmopp in den Schrank. Er hatte alle Flure der ersten Etage und den Kontrollraum gewischt und sehnte sich nach dem Buch in seiner Zelle. Schnee auf dem Kilimandscharo. Trotz der vielen Kurzgeschichten, die darin abgedruckt waren, las er immer nur die eine über den Mann, der Wundbrand im Fuß bekommen hatte und wusste, dass er sterben musste. Doch diese Gewissheit machte ihn weder zu einem besseren noch zu einem schlechteren Menschen, sie steigerte nur seine Klarsicht, seinen Ernst und ließ ihn ungeduldiger werden. Johannes war nie ein großer Leser gewesen, aber da der Gefängnisbibliothekar ihm dieses Buch gegeben hatte und Johannes sich für Afrika interessierte, seit er mit dem Schiff nach Liberia und an die Elfenbeinküste gekommen war, hatte er die Kurzgeschichte über die anscheinend so kleine, unschuldige Wunde und den in seinem Zelt in der Savanne sterbenden Mann gelesen. Beim ersten Mal hatte er die Seiten nur überflogen, jetzt las er sie langsam, Wort für Wort, als wäre er auf der Suche nach etwas.