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»Eine Sache geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Kari, und Simon ging auf, dass sie nicht mehr telefonierte. »Sie haben gesagt, dass Nestor es erfahren würde, wenn wir Gilberg offiziell zum Verhör holen würden. Meinen Sie das ernst?«

»Was denken Sie?«, fragte Simon und beschleunigte in Richtung Hausmanns gate.

»Ich weiß nicht, es hörte sich so an, als würden Sie das wirklich glauben.«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Das ist eine lange Geschichte. Es kursierte vor Jahren das Gerücht, dass bei uns ein Maulwurf arbeitet, der Informationen an jemanden weitergibt, der den Drogenhandel in Oslo kontrolliert. Das ist lange her, und obwohl damals alle darüber geredet haben, konnte niemand beweisen, dass es diesen Maulwurf oder seinen Kontakt wirklich gab.«

»Und wer soll dieser Kontakt im Drogenmilieu sein?«

Simon sah aus dem Fenster. »Bei uns hieß er damals der Zwilling.«

»Der Zwilling«, sagte Kari. »Über den haben wir im Drogen­dezernat auch gesprochen. Etwa so wie Gilberg über die Gespenster in Ila. Gibt’s den wirklich?«

»Schon, der Zwilling ist wohl Realität.«

»Und dieser Maulwurf?«

»Tja. Es gab mal einen Abschiedsbrief von jemandem namens Ab Lofthus, in dem er eingestanden hat, der Maulwurf zu sein.«

»Reicht das nicht als Beweis?«

»Meiner Meinung nach nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil Ab Lofthus der am wenigsten korrupte Mensch war, der jemals bei der Osloer Polizei gearbeitet hat.«

»Woher wissen Sie das?«

Simon hielt bei Rot an der Storgata. Es war fast so, als kröche das Dunkel aus den Fassaden um sie herum – und mit der Dunkelheit kamen die Gestalten der Nacht. Sie schlurften dahin, lehnten nahe den Türen, aus denen Musik dröhnte, an den Wänden oder saßen in Autos mit heruntergelassenen Scheiben. Mit suchenden, hungrigen Blicken. Jäger.

»Weil er mein bester Freund war.«

Johannes sah auf die Uhr. Zehn nach zehn. Zehn Minuten nach der Schließzeit. Die anderen waren bereits in ihren Zellen, er selbst wurde manuell eingeschlossen, wenn er gegen elf mit seiner Putzrunde fertig war. Es war seltsam. Hatte man lange genug im Gefängnis gesessen, kamen einem die Tage wie Minuten vor, und die Kalendergirls konnten kaum mit den vergehenden Monaten mithalten. Die letzte Stunde aber hatte sich wie ein Jahr angefühlt. Ein nicht zu Ende gehen wollendes, ein übles Jahr.

Er betrat den Kontrollraum.

Drei Männer hielten darin Wache, einer weniger als tagsüber. Die Federn eines Stuhls knirschten. Einer der drei wandte sich von den Monitoren ab.

»Hallo, Johannes.«

Es war Geir Goldsrud. Er schob mit dem Fuß den Mülleimer unter dem Tisch nach vorne. Diese Bewegung war inzwischen selbstverständlich. Der ältere Wachleiter half dem alten Putzmann mit dem steifen Rücken schon seit langem. Johannes hatte Geir Goldsrud von Anfang an gemocht. Er zog die Pistole aus der Tasche und hielt sie dem Wachleiter vor das Gesicht.

»Cool! Wo hast du die denn her?«, sagte der blonde Beamte, der in der dritten Liga für Hasle-Løren Fußball spielte.

Johannes antwortete nicht, sondern hatte den Blick fest auf einen Punkt zwischen Goldsruds Augen gerichtet.

»Kannst du mir damit Feuer geben?« Der dritte Beamte hatte sich eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt.

»Tu die weg, Johannes.« Goldsrud redete leise, ohne zu blinzeln, und Johannes wusste, dass er von ihm verstanden worden war. Dieses Ding war nicht bloß ein lustiges Feuerzeug.

»Cooles James-Bond-Teil. Wie viel willst du dafür?« Der Fußballspieler war aufgestanden und kam auf Johannes zu, um sich das Ding genauer anzuschauen.

Johannes richtete die kleine Pistole auf einen der Monitore unter der Decke und drückte ab. Er wusste nicht, was er sich davon erwartete, und war ebenso überrascht wie die anderen, als es knallte, der Bildschirm explodierte und das Glas auf sie herabregnete. Der Fußballspieler erstarrte.

»Auf den Boden!« Johannes hatte eigentlich einen vollen Bariton, doch jetzt hörte sich seine Stimme so an wie die eines hysterischen Waschweibs.

Aber es wirkte. Die Gewissheit, dass ein verzweifelter Mann mit einer tödlichen Waffe vor ihnen stand, hatte einen größeren Effekt als jeder Kommandoton. Alle drei knieten sich hin und legten die Hände auf den Hinterkopf, als hätten sie trainiert, was im Falle einer Bedrohung mit Schusswaffen zu tun war, und vermutlich hatten sie das ja auch. Es gab keinen anderen Weg als die hundertprozentige Kapitulation. Auf dieser Lohnstufe sowieso nicht.

»Ganz auf den Boden! Die Nasen in den Dreck!«

Sie gehorchten. Es war beinahe magisch.

Er starrte auf das Instrumentenpanel. Suchte die Knöpfe, die die Türen öffneten und schlossen. Fand erst nur den, der die Schleusen an allen Ausgängen entriegelte, doch dann entdeckte er auch den roten Generalknopf, der absolut alle Türen öffnete und nur im Brandfall benutzt werden durfte. Er drückte ihn. Ein langer Pfeifton erklang und signalisierte, dass die Türen des Gefängnisses nicht mehr verschlossen waren. In diesem Moment kam ihm ein seltsamer Gedanke. Endlich war er da, wo er immer hingewollt hatte. Als Kapitän auf der Brücke eines Schiffs.

»Weiter nach unten schauen«, sagte er. Seine Stimme klang bereits wieder stabiler. »Wenn ihr mich aufzuhalten versucht, werden meine Kompagnons und ich mich an euren Familien rächen. Vergesst nicht, dass ich alles über euch weiß, Jungs. Trine, Valborg …« Er sagte die Namen von Frauen und Kindern auf, nannte die Schulen, auf die sie gingen, welche Interessen sie hatten und wo sie wohnten. All das Informationen, die die Beamten im Laufe der Jahre ganz nebenbei von sich gegeben hatten. Er warf einen letzten Blick auf die Monitore und verließ dann schnell den Raum. Auf dem Flur begann er zu laufen. Über die Treppe nach unten zur ersten Tür. Sie war offen. Dann über den nächsten Flur. Sein Herz hämmerte wild, er hatte schon lange nicht mehr trainiert und war alles andere als fit. Er musste in Zukunft wirklich mehr tun. Auch die zweite Tür war offen. Aber seine Beine wollten nicht mehr. Vielleicht hatte sich der Krebs bereits in die Muskeln gefressen und sie geschwächt. Die dritte Tür führte in die Schleuse. Eigentlich nur ein kleiner vergitterter Raum. Man musste erst die eine Tür schließen, bevor man die andere öffnen konnte. Er wartete darauf, dass die Gittertür hinter ihm mit einem leisen Summen ins Schloss fiel, und zählte die Sekunden. Über den Flur konnte er bis zu den Umkleiden schauen. Als er endlich das ersehnte Geräusch hörte, drückte er die Klinke vor sich nach unten.

Verschlossen.

Verdammt! Er versuchte es noch einmal. Aber die Tür rührte sich nicht.

Er drückte mit dem Zeigefinger auf die weiße Sensorfläche neben der Tür. Ein Lämpchen blinkte ein paar Sekunden lang gelb, ehe es verlosch und ein anderes rot zu leuchten begann. Johannes wusste, dass der Sensor keinen autorisierten Fingerabdruck erkannt hatte, er rüttelte aber trotzdem noch einmal an der Klinke. Verschlossen. Verloren. Er ließ sich vor der Tür auf die Knie sinken und hörte im selben Moment Geir Goldsruds Stimme durch die Sprechanlage.

»Tut mir leid, Johannes.«

Die Stimme kam aus dem Lautsprecher oben an der Wand. Sie klang ruhig, fast tröstend.

»Das ist unser Job, Johannes. Wenn wir jedes Mal den Schwanz einziehen würden, nur weil jemand unsere Familien bedroht, gäbe es in ganz Norwegen vermutlich keine Strafvollzugsbeamten mehr. Beruhige dich erst mal. Wir kommen gleich runter und holen dich. Schiebst du die Pistole durch die Gittertür, oder müssen wir dich erst mit Gas betäuben?«

Johannes schaute nach oben, in die Kamera. Erkannten sie die Verzweiflung in seinem Blick? Oder war es doch Erleichterung? War er froh darüber, hier gestoppt worden zu sein, darüber, dass sein Leben nun doch weitergehen konnte wie bisher? Zumindest in etwa so wie bisher. Den Boden des ersten Stocks würde er wohl nicht mehr wischen dürfen.

Er schob die vergoldete Pistole durch die Gitterstäbe. Dann legte er sich auf den Boden, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und rollte sich zusammen wie eine Biene, die gerade ihren einzigen und damit letzten Stachel verloren hatte. Als er die Augen wieder öffnete, hörte er aber keine Hyänen, war er nicht an Bord eines Flugzeugs auf dem Weg zum Gipfel des Kilimandscharos. Er war noch immer irgendwo im Nichts, er war am Leben, er war hier.