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»Aber ich konnte es nicht. Dabei wusste ich, dass sie so oder so sterben würde. Der Hund wartete ja nur darauf, und an ihrer Stelle wäre mir eine Kugel echt lieber gewesen. Das alles ging mir damals durch den Kopf, aber dieser scheiß Abzug war wie festzementiert. Ich konnte einfach nicht abdrücken.«

Der junge Mann schien kaum merkbar zu nicken. Vielleicht reagierte er auf Rovers Worte, vielleicht aber auch auf Musik, die nur er hören konnte.

»Nestor sagte, wir könnten nicht bis in alle Ewigkeit warten, schließlich stünden wir mitten in einem öffentlichen Park. Dann nahm er das kleine krumme Messer aus seinem Beinhalfter, trat einen Schritt vor, packte sie an den Haaren, hob ihren Kopf etwas an und fuhr fast beiläufig mit dem Messer über ihren Hals. Als würde er einen Fisch aufschlitzen. Das Blut pumpte drei oder vier Mal aus ihr heraus, dann war sie leer. Aber weißt du, woran ich mich am deutlichsten erinnere? An diesen Köter … Wie er zu heulen anfing, als das Blut spritzte.«

Rover beugte sich auf dem Stuhl vor, die Ellenbogen auf den Knien. Er presste seine Hände auf die Ohren. Bewegte sich vor und zurück.

»Und ich, ich habe nichts gemacht. Ich stand einfach nur da und sah zu. Ich hab echt keinen Finger gerührt. Hab zugesehen, wie sie sie in eine Decke wickelten und zum Auto trugen. Wir haben sie in den Wald gefahren, zum Østmarksetra, und sie dann am Ulsrudvannet irgendwo die Böschung runtergekippt. Da am See laufen ja viele Leute mit ihren Hunden herum, so dass sie gleich am nächsten Tag gefunden wurde. Nestor wollte das so. Es sollte in den Zeitungen stehen, was mit ihr passiert war. Damit er es den anderen Mädchen zeigen konnte.«

Rover nahm die Hände von den Ohren. »Ich habe danach nicht mehr richtig geschlafen, hatte nachts immer Alpträume. Das Mädchen ohne Wange lächelte mich immer und immer wieder mit ihren freigelegten Zähnen an. Deshalb bin ich dann irgendwann zu Nestor gegangen und habe ihm gesagt, dass ich aussteigen will. Ich wollte keine Uzis oder Glocks mehr zurecht­feilen, sondern wieder an meinen Motorrädern schrauben. Ein friedliches Leben, ohne den ständigen Gedanken an die Polizei. Nestor sagte, das sei okay, er hatte wohl schon gemerkt, dass ich nicht wirklich ein Bad Guy war. Er malte mir aber in allen Farben aus, was passieren würde, sollte ich jemals das Maul aufmachen. Ich dachte, die Sache wäre damit erledigt, und begann ein normales Leben. Lehnte alle Angebote ab, obwohl ich bei mir noch ein paar verdammt gute Uzis liegen habe. Trotzdem hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass im Hintergrund irgendwas lief. Dass sie mich doch ausknipsen wollten. Ich war deshalb fast erleichtert, als die Bullen mich einbuchteten. Eine alte Sache, mit der ich nur peripher zu tun hatte, aber sie hatten zwei Typen festgenommen, die aussagten, dass ich sie mit Waffen versorgt hätte. Ich habe es sofort zugegeben.«

Rover lachte hart. Hustete. Beugte sich auf dem Stuhl vor:

»In achtzehn Stunden komme ich hier raus. Ich habe keine blasse Ahnung, was mich erwartet. Ich weiß bloß, dass Nestor weiß, dass ich rauskomme, dabei sollte das eigentlich erst in vier Wochen sein. Er weiß alles, was hier oder bei den Bullen vor sich geht. Er hat seine Leute überall, so viel habe ich verstanden. Aber wenn er mich loswerden wollte, hätte er das ebenso gut hier drinnen erledigen können, statt zu warten, bis ich wieder draußen bin. Stimmt doch, oder?«

Rover wartete. Stille. Das Gesicht des anderen sah nicht so aus, als hätte er zu irgendetwas eine Meinung.

»Egal«, sagte Rover. »Ein bisschen Segen kann nicht schaden.«

Bei dem Wort »Segen« schien etwas im Blick des jungen Mannes aufzuleuchten, und er hob die rechte Hand und signalisierte Rover, dass er näher kommen und sich hinknien sollte. Rover stemmte seine Knie in den kleinen Teppich, der vor dem Bett lag. Franck erlaubte niemandem sonst einen Teppich auf dem Boden. Strikt nach dem Schweizer Modell, das sie hier im Hochsicherheitsgefängnis anwendeten. Niemand sollte etwas Überflüssiges in seiner Zelle haben. Die Anzahl der privaten Gegenstände war auf zwanzig pro Insassen begrenzt. Wollte man ein zusätzliches Paar Schuhe, musste man zwei Unterhosen oder zwei ­Bücher dafür eintauschen, um nur ein Beispiel zu nennen. Rover sah dem Jungen ins Gesicht. Sonny befeuchtete seine auf­gesprungenen, trockenen Lippen mit der Zungenspitze. Seine Stimme war überraschend hell, und obwohl er die Worte nur langsam flüsterte, waren sie klar und deutlich:

»Alle irdischen und himmlischen Götter erbarmen sich deiner und vergeben dir deine Sünden. Du wirst sterben, aber die Seelen der Sünder, denen vergeben wurde, werden ins Paradies eingehen. Amen.«

Rover senkte den Kopf und spürte gleich darauf die linke Hand des anderen auf seinem kahlrasierten Schädel. Der Junge war Linkshänder, aber in diesem Fall musste man kein Statistikfreak sein, um sich auszurechnen, dass er eine geringere Lebenserwartung als ein Durchschnittsrechtshänder hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich eine Überdosis setzte. Dass diese Hand heilen konnte, wie die Leute sagten, glaubte Rover keine Minute. Und auch an der Geschichte mit dem Segen zweifelte er.

Aber warum saß er dann noch hier?

Tja. Wahrscheinlich war es mit der Religion wie mit einer Feuer­versicherung; man rechnete nicht im Ernst damit, sie mal wirklich zu brauchen. Und wenn schon alle so überzeugt davon waren, dass dieser Junge sich das Leid anderer auflud, warum also nicht das bisschen Seelenfrieden mitnehmen?

Rover beschäftigte eher, dass dieser Typ derart kaltblütige Morde verübt haben sollte. Das passte doch überhaupt nicht zusammen. Aber vielleicht hatte der Teufel ja wirklich die besten Verkleidungen.

»Salam aleikum«, sagte die Stimme, und die Hand entfernte sich.

Rover blieb mit gesenktem Kopf sitzen und fuhr sich mit der Zunge über die glatte Rückseite des Goldzahns. War er jetzt ­bereit? Bereit, seinem Schöpfer gegenüberzutreten, sollte das sein Schicksal sein? Er hob den Blick.

»Ich weiß, dass du nie Geld willst, aber …« Er sah auf den nackten Fuß, den der Junge unter sein anderes Bein gezogen hatte. Auch in der dicken Ader auf dem Rist waren Einstichwunden zu erkennen. »Beim letzten Mal habe ich im Botsen gesessen, und da sind alle an Stoff gekommen – das war nie ein Problem. Aber das ist ja auch kein Hochsicherheitsgefängnis. Es heißt, Franck hat alle Schlupflöcher gestopft, aber …« Rover steckte die Hand in die Tasche. »… das stimmt nicht ganz.«

Er holte einen Gegenstand in der Größe eines Handys heraus. Ein vergoldetes Ding, das wie eine Miniaturpistole geformt war. Rover drückte den kleinen Abzug. Eine winzige Flamme leckte aus der Mündung.

»Schon mal gesehen? Bestimmt hast du das. Wie das Wachpersonal, das mich durchsucht hat, als ich hierhergekommen bin. Sie wollten wissen, ob ich mich für die billigen Schmuggelzigaretten interessierte, die sie verkauften, und haben mir mein Feuerzeug gelassen. Vermutlich kannten sie meine Akte nicht. Ist es nicht seltsam, dass dieses Land noch immer funktioniert, obwohl den Menschen ständig solche Schlampereien passieren?«

Rover wog das Feuerzeug in der Hand.

»Ich habe dieses Ding vor acht Jahren in doppelter Ausführung gebaut. Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass niemand in diesem Land einen besseren Job gemacht hätte. Den Auftrag hatte ich über einen Strohmann bekommen. Sein Kunde wollte eine Schusswaffe, die er nicht einmal zu verbergen braucht, weil sie als solche nicht zu erkennen ist. Damals kam mir diese Idee. Das menschliche Gehirn ist echt seltsam. Wenn die Leute so was sehen, glauben sie natürlich erst mal, eine Pis­­tole vor sich zu haben. Aber sobald man ihnen gezeigt hat, dass es ein Feuerzeug ist, schieben sie den ersten Gedanken beiseite. Wobei sie nicht ausschließen, dass man dieses Ding hier möglicherweise auch als Zahnbürste oder Schraubenzieher benutzen kann. Nur eben nicht als Waffe, da sind sie sich ganz sicher. Nun …«