»Wo ist Sonny?«
Johannes lag auf dem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ist er nicht in seiner Zelle?«
»Du weißt verdammt gut, dass er da nicht ist!«
»Dann ist er wohl abgehauen.«
Franck beugte sich hinunter, packte den Ausschnitt von Johannes’ T-Shirt und zog ihn zu sich hoch.
»Hör auf zu grinsen, Halden. Ich weiß, dass der Wachmann unten niemanden gesehen hat. Also muss er noch hier sein. Und wenn du mir nicht sagst, wo, kannst du die Krebstherapie vergessen.« Franck sah die Verblüffung des Alten. »Ja, ich weiß, der Arzt hat Schweigepflicht, aber ich habe meine Augen und Ohren überall. Und?« Er ließ Johannes los, der zurück in die Kissen fiel.
Der Alte schob seine dünnen Haare zurecht und legte die Hände hinter den Kopf.
»Weißt du was, Chef?«, sagte er mit einem Räuspern. »Eigentlich habe ich lange genug gelebt. Draußen wartet ja doch niemand auf mich. Und meine Sünden sind mir vergeben worden. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich also die Chance, da oben aufgenommen zu werden. Vielleicht sollte ich diese Chance nutzen, solange ich sie habe. Was meinst du?«
Arild Franck biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Füllungen beinahe platzten.
»Halden, ich glaube, dir ist nicht eine deiner Sünden vergeben worden. Denn hier bin ich Gott, und ich verspreche dir einen langsamen, quälenden Krebstod. Ich werde schon dafür sorgen, dass du hier drinnen elend verfaulst, ohne dass dir irgendjemand Schmerzmittel bringen kann. Du wärst nicht der Erste, um das mal so zu sagen.«
»Lieber diese Hölle als die, die dich erwartet, Chef.«
Franck war sich nicht sicher, ob das Gurgeln, das aus dem Hals des Alten kam, ein letztes Röcheln oder ein Lachen war.
Wieder auf dem Weg zu Zelle 317, erkundigte Franck sich via Walkie-Talkie nach Sonny Lofthus, aber es gab noch immer keine Spur von ihm. In Kürze mussten sie die Fahndungsmeldung rausgeben.
Er ließ sich auf Sonnys Bett fallen und den Blick über Decke, Boden und Wände schweifen. Das war doch unmöglich! Verdammt noch mal unmöglich! Er nahm die Bibel vom Nachtschränkchen und schleuderte sie an die gegenüberliegende Wand. Sie fiel zu Boden und klappte auf. Vollan hatte mit dieser Bibel Heroin ins Staten geschmuggelt. Franck musterte die ausgehöhlten Seiten. Ramponierte Glaubensbekenntnisse und halbe Sätze, die keinen Sinn mehr ergaben.
Dann warf er fluchend das Kissen an die Wand.
Als es auf dem Boden landete, fielen seitlich kurze rote Haare heraus, die nach Bart aussahen. Er trat wütend gegen das Kissen, und neben den kurzen roten kamen auch verfilzte Strähnen blonder Haare zum Vorschein.
Kurzgeschnitten und rasiert.
In diesem Augenblick dämmerte es ihm.
»Die Nachtschicht!«, schrie er ins Walkie-Talkie. »Alle Beamten überprüfen, die Nachtschicht hatten!«
Franck sah auf die Uhr. Zehn nach acht. Er wusste, was los war. Und er wusste, dass er daran nichts mehr ändern konnte. Er stand auf und trat so fest gegen den Stuhl, dass er den Spiegel neben der Tür zerschmetterte.
Der Busfahrer studierte den Vollzugsbeamten, der vor ihm stand und betroffen auf das Ticket und die fünfzig Kronen starrte, die er für seinen Hunderter bekommen hatte. Der junge Mann musste es eilig haben, denn unter dem langen, offenen Mantel trug er noch die Uniform. Er hatte nicht einmal die ID-Karte abgenommen. Unter dem Bild, das wieder mal bewies, wie schlecht manche Aufnahmen waren, stand der Name Sørensen
»Ist wohl lange her, dass Sie zuletzt Bus gefahren sind?«, fragte der Fahrer.
Der kahlgeschorene Mann nickte.
»Wenn Sie das Ticket vorher am Automaten kaufen, kostet es nur sechsundzwanzig Kronen«, sagte der Fahrer, sah dem Mann aber an, dass er auch diesen Preis noch ziemlich deftig fand. Typisch für Leute, die in Oslo schon seit Jahren nicht mehr Bus gefahren waren.
»Danke für den Tipp«, sagte der Mann.
Der Fahrer fuhr aus der Haltestelle und sah den Beamten im Rückspiegel nach hinten gehen. Er wusste nicht, was ihn so berührt hatte, vielleicht seine warme, gefühlvolle Stimme. Als hätte er diesen Dank wirklich ernst gemeint. Er sah, wie der Mann Platz nahm und verwundert aus dem Fenster sah. Fast wie einer dieser ausländischen Touristen, die sich manchmal in seinen Bus verirrten. Dann nahm er einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und studierte ihn, als hätte er ihn nie zuvor gesehen. Der Busfahrer beobachtete noch, dass der Mann aus der anderen Tasche ein Päckchen Kaugummi hervorholte, musste sich dann aber wieder auf den Verkehr konzentrieren.
Teil II
Kapitel 12
Arild Franck stand am Fenster seines Büros und sah auf die Uhr. Die meisten Ausbrecher wurden im Laufe der ersten zwölf Stunden gefasst. Der Presse gegenüber hatte er allerdings von vierundzwanzig Stunden gesprochen, um sich etwas mehr Luft zu verschaffen. Inzwischen war allerdings die fünfundzwanzigste Stunde angebrochen, und noch immer fehlte jede Spur.
Er war gerade erst im großen Büro gewesen, dem Büro ohne Aussicht, in dem ihn der Mann ohne Weitblick um eine Erklärung gebeten hatte. Der Gefängnisdirektor war schlecht gelaunt, da er wegen dieses Vorfalls die jährliche Tagung der nordischen Gefängnisdirektoren in Reykjavík hatte verlassen müssen. Schon am Vortag, noch in Island, hatte er am Telefon gesagt, dass er selbst mit der Presse sprechen wolle. Der Direktor liebte den Umgang mit den Medien. Franck hatte um einen Tag Zeit gebeten, um Lofthus ohne Aufsehen wieder einbuchten zu können, war damit beim Direktor aber auf Granit gestoßen. Er wollte diesen Vorfall auf keinen Fall unter den Teppich kehren. Erstens mussten die Bürger vor dem verurteilten Mörder Lofthus gewarnt werden. Außerdem, zweitens, konnten sie die Öffentlichkeit nur zur aktiven Mithilfe aufrufen, wenn Sonnys Foto in den Medien präsent war.
»Und drittens, damit auch mal wieder Ihr Bild in der Zeitung erscheint«, sagte Franck. »Ihre Politikerfreunde müssen doch sehen, dass da drüben in Island gearbeitet und nicht nur in der Blauen Lagune gebadet und Svartadaudir getrunken wird.«
Nichts hatte den Direktor überzeugen können, es interessierte ihn nicht, dass die zwölf Jahre alten Fotos von Sonny Lofthus, mit Bart und langen Haaren, in der Zeitung nichts bewirken würden. Und auch nicht, dass die Bilder der Überwachungskamera, auf denen Sonny rasiert und mit beinahe kahlgeschorenem Schädel zu sehen war, so körnig waren, dass sie nicht verwendet werden konnten. Der Direktor hatte darauf bestanden, das Gefängnis und seinen Namen in den Dreck zu ziehen.
»Die Polizei fahndet nach ihm, Arild, es sollte auch Ihnen klar sein, dass es nur eine Frage von Stunden ist, bis mich jemand von der Presse anruft und fragt, warum wir das nicht publik gemacht haben und ob es womöglich noch weitere geheim gehaltene Ausbrüche gibt. In solchen Fällen ziehe ich es wirklich vor, die Zügel in der Hand zu halten, Arild.«
Gerade eben hatte der Gefängnisdirektor ihn gefragt, welche Routineabläufe Francks Meinung nach verbessert werden könnten. Franck wusste, warum. So konnte er zu seinen Politikerfreunden gehen und die Ideen seines Stellvertreters als die seinen verkaufen. Als die Ideen eines Mannes mit Weitblick. Trotzdem hatte er diesen Idioten ins Vertrauen gezogen und ihm seine Vorstellungen erläutert. Stimmerkennungssoftware anstelle von Fingerabdrücken und Fußfesseln mit GPS-Chips, die sich nicht zerstören ließen. Diese Dinge waren ihm, wie auch das ganze Staten, wichtiger als seine eigene Person.
Arild Franck sah zum Ekeberg hinüber, der in der Morgensonne badete. Früher war das einmal die Sonnenseite des Arbeiterviertels gewesen. Auch er hatte seinerzeit davon geträumt, sich dort oben ein kleines Häuschen zu kaufen. Jetzt besaß er ein größeres Anwesen in einem teureren Viertel, träumte aber noch immer von diesem kleinen Haus am Ekeberg.
Nestor hatte die Nachricht von Sonnys Ausbruch mit Fassung getragen. Aber diese Art Selbstkontrolle war typisch für Leute, die Franck Sorgen machten. Sie waren durch und durch kontrolliert, sogar dann, wenn sie Entscheidungen fällten, die so brutal waren, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Entscheidungen, die andererseits aber auch so simpel, klar und logisch waren, dass sie Arild Franck immer wieder tief beeindruckten.