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»Suchen Sie ein Zimmer?«

Der Mann nickte, und sie drehte den Schlüssel, um unten die Tür zu öffnen. Dann rief sie Stine, die nebenan in der Küche für einen der Bewohner Brote schmierte, und bat sie, die Rezeption zu übernehmen. Sie ging nach unten und passierte die Gittertür, die sie von oben schließen konnten, sollten Unbefugte eindringen. Der junge Mann wartete draußen vor der Haustür. Sein bodenlanger Mantel war bis zum Hals zugeknöpft. Er hatte nackte Füße, und in seiner feuchten Fußspur entdeckte sie Blut. Aber Martha war einiges gewohnt, weshalb ihr im Grunde nur sein Blick auffiel. Er sah sie. Anders konnte sie das nicht beschreiben. Er hatte seine Augen auf sie gerichtet, und diesen Augen konnte man entnehmen, dass er über sie nachdachte. Martha. Vielleicht nicht viel, aber deutlich mehr, als sie es hier im Ila gewohnt war. Einen Moment lang flatterte der Gedanke durch ihren Kopf, dass er vielleicht doch keine Drogen nahm, aber sie wies ihn schnell von sich.

»Hallo. Komm erst mal mit.«

Er folgte ihr in den ersten Stock, wo sie in das Besprechungszimmer gegenüber der Rezeption gingen. Die Tür ließ sie wie immer offen, damit Stine sie sehen konnte. Dann bot sie ihm einen Platz an und suchte die Formulare für das obligatorische Aufnahmegespräch heraus.

»Name?«

Er zögerte.

»Weißt du, irgendeinen Namen muss ich in dieses Formular eintragen.« Ein Hinweis, den viele, die ins Ila kamen, gut gebrauchen konnten.

»Stig«, sagte er etwas fragend.

»Stig ist gut«, sagte sie. »Und wie weiter?«

»Berger?«

»Okay. Dann schreiben wir das. Geboren?«

Er nannte ihr ein Datum und eine Jahreszahl, und sie kam rasch zu dem Schluss, dass er gerade dreißig geworden war. Er sah jünger aus. Es war wirklich seltsam, aber bei Drogenabhängigen lag man oft daneben, wenn es darum ging, das Alter zu schätzen. Und das in beiden Richtungen.

»Hat dich jemand hergeschickt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wo hast du letzte Nacht geschlafen?«

»Unter einer Brücke.«

»Dann gehe ich davon aus, dass du keinen festen Wohnsitz hast und auch nicht weißt, welchem Sozialamt du unterstehst. Ich nehme also die Zahl Elf aus deinem Geburtsdatum, und die führt uns zum …« Sie warf einen Blick auf eine Liste. »Sozialamt Alna, das in seiner Güte hoffentlich für dich bezahlen wird. Was für Drogen nimmst du?«

Sie hatte den Stift gezückt, aber er antwortete nicht.

»Ich brauche nur dein Leibgericht.«

»Ich habe aufgehört.«

Sie legte den Stift weg. »Wir nehmen hier im Ila nur akut Drogenabhängige auf. Ich kann aber in der Sporveisgata anrufen und fragen, ob sie dich da nehmen. Da ist es auch um einiges angenehmer als hier.«

»Du meinst …«

»Ja, ich meine, dass du tatsächlich regelmäßig Drogen nehmen musst, um hier wohnen zu dürfen.« Sie lächelte ihn müde an.

»Und wenn ich sage, dass ich dich angelogen habe, weil ich dachte, dass ich dann eher ein Zimmer kriege?«

»Dann hast du auch diese Frage richtig beantwortet, aber mehr Tipps gebe ich dir jetzt nicht mehr.«

»Heroin«, sagte er.

»Und?«

»Nur Heroin.«

Sie machte ein Kreuzchen auf ihrem Formular, fragte sich aber, ob das wirklich stimmen konnte. Es gab kaum noch einen Abhängigen in Oslo, der nur Heroin nahm, da man das eh schon gestreckte Zeug, das man auf der Straße bekam, mit Benzodiazepinen wie zum Beispiel Rohypnol aufpeppen konnte, um mehr von seinem Rausch zu haben.

»Was erwartest du dir von deinem Aufenthalt hier?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ein Dach über dem Kopf.«

»Spezielle Krankheiten oder wichtige Medikamente?«

»Nein.«

»Hast du Pläne für die Zukunft?«

Er sah sie an. Martha Lians Vater hatte einmal gesagt, dass die Geschichte eines Menschen in seinem Blick verborgen liege, und dass man lernen könne, diese Geschichte zu lesen. Aber nicht die Zukunft. Über die Zukunft wusste man nichts. Trotzdem sollte Martha sich später an diesen Moment erinnern und sich immer wieder fragen, ob sie darin doch etwas über die Zukunftspläne des sogenannten Stig Berger hätte lesen können.

Er schüttelte den Kopf und wiederholte das, als sie nach Arbeit, Ausbildung, Überdosen, somatischen Krankheiten, Blut­infektionen und psychischen Problemen fragte. Zum Schluss erklärte sie ihm, dass sie der Schweigepflicht unterlägen und seinen Aufenthaltsort an niemanden weitergeben würden, dass er aber eine Einverständniserklärung unterzeichnen könne, damit bestimmte Menschen Auskunft bekämen, sollten sie sich an das Hospiz wenden.

»Damit zum Beispiel deine Eltern, Freunde oder Lebensgefährtin sich bei dir melden können.«

Er lächelte. »Habe ich alles nicht.«

Martha Lian hatte diese Antwort schon oft gehört. So oft, dass sie keinen Eindruck mehr auf sie machte.

Ihr Psychologe nannte das compassion fatigue, eine Art Nachlassen des Mitgefühls. Und dann hatte er ihr erklärt, dass das in ­ihrem Metier fast alle irgendwann erwischte. Was Martha allerdings Sorgen machte, war, dass es nicht vorüberging. Es mochte zynisch klingen, aber ihre Energiequelle war immer die Em­pathie gewesen. Das Mitgefühl. Die Liebe. Doch jetzt war davon fast nichts mehr übrig. Deshalb reagierte sie, als sie spürte, wie sehr sie die Worte »Habe ich alles nicht« zusammenzucken ließen, als hätte jemand mit einer Nadel einen Nervenknoten in einem Muskel getroffen, der lange nicht mehr benutzt worden war.

Sie steckte die Formulare in eine Mappe, die sie in die Rezeption brachte, und begleitete den neuen Bewohner nach unten, ins kleine Kleiderlager im Erdgeschoss.

»Ich hoffe, du gehörst nicht zu der paranoiden Sorte, die keine Kleider von anderen tragen.« Sie drehte ihm den Rücken zu, während er den Mantel ablegte und die Sachen anzog, die sie ihm hingelegt hatte.

Sie wartete, bis er sich räusperte, und drehte sich um. Aus irgendeinem Grund sah er mit dem hellblauen Pullover und der Jeans größer und fitter und auch nicht mehr so abgemagert aus, wie er in dem Mantel gewirkt hatte. Er starrte auf die einfachen blauen Joggingschuhe.

»Ja«, sagte sie trocken. »Pennerschuhe.«

Große Mengen überschüssige Joggingschuhe waren in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts vom Militär an wohltätige Organisationen gespendet worden, und diese Schuhe waren mittlerweile zu einem Erkennungsmerkmal der Drogenabhängigen und Obdachlosen geworden.

»Danke«, sagte er leise.

Da war es. Dieses Wort, das sie seinerzeit angetrieben hatte, zum Psychologen zu gehen. Weil es eben nie fiel. Weil wieder einer dieser Sich-selbst-Zerstörer nichts für das System übrighatte. Dabei hatten all diese Menschen doch nur dank des Wohlfahrtsstaates und der sozialen Einrichtungen, die sie nicht zu beschimpfen aufhörten, eine Art Existenz. Auslöser war ein Streit mit einem Bewohner gewesen. Sie war ausgerastet, hatte einen Wutanfall bekommen und ihn angeschrien, dass er zum Teufel gehen sollte, wenn ihm die Dicke der Einmalspritze, die er gratis bekäme, nicht passte, oder das Zimmer, für das das Sozialamt sechstausend Kronen im Monat zahlte und in dem er sich doch nur die Drogen schoss, die er mit in der Nachbarschaft geklauten Fahrrädern ­finanzierte. Der Junkie hatte sich in einem vierseitigen Brief über sie beschwert und seine Leidensgeschichte lang und breit aus­gerollt, woraufhin sie sich entschuldigen hatte müssen.

»Dann gehen wir mal zu deinem Zimmer«, sagte sie.

Auf dem Weg in den zweiten Stock zeigte sie ihm die Waschräume und Toiletten. Männer hasteten mit schnellen Schritten und Drogen im Blick an ihnen vorbei.

»Willkommen in Oslos bestem Drogensupermarkt«, sagte Martha.

»Hier drinnen?«, fragte der Mann. »Darf man hier Sachen verkaufen?«

»Nach Hausordnung nicht, aber wer Drogen nimmt, muss ja auch welche haben. Du musst wissen, dass wir uns definitiv nicht darum kümmern, ob du ein Gramm oder ein Kilo auf deinem Zimmer hast. Wir gehen da nur rein, wenn wir den Verdacht haben, dass du dort Waffen aufbewahrst.«