»Wie meinen Sie das?«
»Nun, er könnte Lofthus geholfen haben. Vielleicht hat er Lofthus aber auch hier im Gefängnis bedroht, und Lofthus hat sein Heil in der Flucht gesucht.«
Franck trommelte mit einem Stift auf die Tischplatte. Offenbar dachte er nach.
Aus den Augenwinkeln sah Simon, dass Kari eine SMS las.
»Ich weiß, wie nötig Sie einen Erfolg haben, aber hier werden Sie keinen dicken Fisch fangen«, sagte Franck. »Sonny Lofthus ist aus eigener Kraft getürmt.«
»So was.« Simon lehnte sich zurück und legte die Fingerkuppen aneinander. »Ein drogenabhängiger, junger Amateur bricht ohne fremde Hilfe einfach so aus dem Staten aus?«
Franck lächelte. »Amateur? Würden Sie darauf wetten, Kefas?« Sein Grinsen wurde noch breiter, als Simon nicht antwortete. »Ach nee, wie dumm von mir, Sie wetten ja nicht mehr. Wie dem auch sei, ich kann Ihnen Ihren Amateur zeigen.«
»Das sind die Aufnahmen der Überwachungskameras«, sagte Franck und zeigte auf den 24-Zoll-Bildschirm. »Zu diesem Zeitpunkt liegen alle Beamten des Kontrollraums mit der Nase auf dem Boden. Halden hatte gerade alle Türen des Gefängnisses geöffnet.«
Der Monitor war in sechs Felder unterteilt, eines für jede der Kameras, die verschiedene Bereiche des Gefängnisses zeigten. Am unteren Rand des Bildschirms lief eine Uhr.
»Da kommt er«, sagte Franck und zeigte auf einen Bildausschnitt, der einen Zellenkorridor zeigte.
Simon und Kari sahen eine Person aus einer der Zellen kommen und auf steifen Beinen in Richtung Kamera laufen. Der Mann trug ein langes weißes Hemd, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Simon dachte, dass dieser Mann einen noch schlechteren Friseur als er selbst haben musste. Es sah fast so aus, als hätte man ihm die Haare vom Kopf gerissen.
Der junge Mann verschwand aus dem Bild und tauchte in einem anderen wieder auf.
»Da sehen Sie Lofthus in der Schleuse«, sagte Franck. »Zu dieser Zeit hielt Halden seine Rede, was er mit den Familien der Aufseher anstellen würde, wenn sie ihn aufzuhalten versuchten. Interessant ist aber, was anschließend in der Garderobe passiert, also in dem Raum, in dem der eigentliche Wachwechsel vonstattengeht.«
Sie sahen Lofthus einen Raum mit Garderobenschränken betreten, aber statt weiter zur nächsten Tür zu laufen, verschwand der Mann hinter der letzten Reihe. Franck tippte hart auf die Tastatur, und die Uhr am unteren Rand des Bildschirms blieb stehen.
»Jetzt bricht er den Garderobenschrank von Sørensen auf, einem derzeit krankgeschriebenen Wachmann. Er zieht sich um und verbringt die restliche Nacht im Schrank. Gegen Morgen kommt er wieder heraus und wartet auf die anderen.«
Franck legte den Cursor auf die Uhr, tippte 07.20 und ließ das Band mit vierfacher Geschwindigkeit weiterlaufen. Uniformierte Männer kamen auf den Bildern zum Vorschein. Sie gaben sich die Klinke der Garderobe in die Hand, und die Ausgangstür öffnete sich immer wieder. Es war unmöglich, die einzelnen Männer zu unterscheiden, bis Franck das Band mit einem weiteren Tastendruck anhielt.
»Da ist er«, sagte Kari. »Der in Uniform und Mantel.«
»Sørensens Uniform und Mantel«, sagte Franck. »Bevor die anderen gekommen sind, muss er aus dem Schrank geklettert sein, sich umgezogen und dann gewartet haben. Vielleicht hat er auf der Bank gesessen und so getan, als schnürte er sich die Schuhe, während die anderen kamen und gingen. Wir haben hier so viele Angestellte, dass niemand auf einen Neuen achten würde, der etwas langsamer ist. Er wartete, bis besonders viel los war, und ging dann gemeinsam mit den anderen nach draußen. Niemand erkannte Sonny, nachdem er sich Bart und Haare abgeschnitten und sie in seinen Kopfkissenbezug gesteckt hatte. Nicht einmal ich …«
Mit einem Tastendruck startete er wieder das Band, dieses Mal in Normalgeschwindigkeit. Die Bilder zeigten den jungen Mann in Mantel und Uniform auf dem Weg nach draußen, während Arild Franck und eine Person mit nach hinten gekämmten Haaren und grauem Anzug hereinkamen.
»Und draußen an der Pforte wurde er auch nicht aufgehalten?«
Franck zeigte auf das Bild in der unteren rechten Ecke des Bildschirms.
»Diese Kamera zeigt die Schranke beim Wachhäuschen. Wie Sie sehen, lassen wir Autos und Leute durch, ohne ihre Ausweise zu überprüfen. Es gäbe lange Wartezeiten, wenn wir auch während des Schichtwechsels die üblichen Routineüberprüfungen durchführen würden. Natürlich werden wir von jetzt an alle, die rein oder raus wollen, kontrollieren.«
»So viele Unbefugte werden wohl nicht rein wollen«, sagte Simon.
In der folgenden Stille hörten sie deutlich, wie Kari ein Gähnen unterdrückte.
»Da haben Sie Ihren Amateur«, sagte Franck.
Simon Kefas antwortete nicht, sondern studierte den Rücken des Mannes, der an dem Wachhäuschen vorbeiging. Aus irgendeinem Grund musste er lächeln. Es lag am Gang dieses Mannes. Er erkannte ihn wieder.
Martha stand mit verschränkten Armen da und musterte die beiden Männer. Vom Drogendezernat waren die nicht, die hatte sie alle schon einmal gesehen. Diese beiden aber kannte sie nicht.
»Wir wollen nur …«, sagte der eine von ihnen, doch der Rest des Satzes ging im Heulen der Sirene eines Rettungswagens unter, der über die Waldemar Thranes gate raste.
»Was?«, rief Martha. Ob sie diese schwarzen Anzüge aus einer Reklame kannte?
»Sonny Lofthus«, wiederholte der Kleinere der beiden. Er hatte blonde Haare, und seine Nase schien mehrfach gebrochen zu sein. Martha hatte schon viele gebrochene Nasen gesehen, aber diese musste ein Resultat von Kampfsport sein.
»Ich kann Ihnen über unsere Bewohner keine Auskunft geben. Ich unterliege der Schweigepflicht«, sagte sie.
Der andere, ein großer, aber dennoch gedrungen wirkender Mann, der die paar schwarzen Locken, die er noch hatte, zu einem seltsamen Halbkreis frisiert hatte, zeigte ihr ein Bild.
»Er ist aus dem Staten ausgebrochen und gilt als gefährlich.« Als ein weiterer Rettungswagen näher kam, beugte sich der Mann zu ihr herunter und rief ihr ins Ohr: »Wenn er hier wohnt und etwas passiert, wird das auf Sie zurückfallen, sollten Sie uns etwas verschwiegen haben. Verstanden?«
Die waren nicht vom Drogendezernat, deshalb kannte sie sie nicht. Sie musterte sie noch einmal und nickte. Dann hob sie den Blick und wollte etwas sagen, aber der Wind blies ihr die dunklen Haare ins Gesicht. Sie unternahm einen neuen Anlauf, als sie hinter sich jemanden rufen hörte. Es war Toy, er stand auf der Treppe.
»Martha, komm schnell, Burre hat sich geschnitten. Selber. Ich habe damit nichts zu tun. Wirklich. Er sitzt im Café.«
»Wir haben hier im Sommer immer wieder neue Leute«, sagte sie. »Viele Stammbewohner schlafen jetzt lieber im Park, deshalb ist Platz für andere. Es ist nicht leicht, sich an alle Gesichter zu erinnern …«
»Sein Name ist, wie gesagt, Sonny Lofthus.«
»… und nicht alle geben ihren richtigen Namen an. Wir erwarten ja auch nicht gerade, dass unsere Bewohner sich ausweisen können, weshalb wir die Namen akzeptieren, die sie uns nennen.«
»Müssen Sie sie denn nicht im Sozialamt melden?«, fragte der Blonde.
Martha biss sich auf die Unterlippe.
»Martha, du musst wirklich kommen. Er blutet echt übel!«
Der Mann mit dem Lockenkranz legte seine große, haarige Hand auf ihren nackten Oberarm. »Lassen Sie uns doch einfach kurz nachschauen, vielleicht finden wir ihn ja.« Er bemerkte ihren Blick und nahm seine Hand weg.
»Apropos Identifikation«, sagte sie. »Dürfte ich vielleicht Ihre Ausweise sehen?«
Der Blick des Blonden verfinsterte sich. Und die Hand des Lockigen war plötzlich wieder da. Diesmal lag sie nicht auf ihrem Oberarm, sondern umschloss ihn.
»Burre ist bald leer.« Toy war zu ihnen nach unten getorkelt und richtete seinen glasigen Blick auf die beiden Männer.
»He, was geht denn hier ab?«
Martha befreite sich aus dem Griff des Mannes und legte Toy die Hand auf die Schulter. »Komm, dann sollten wir reingehen und sein Leben retten. Wenn Sie einen Moment warten könnten, meine Herren?«