Markus schüttelte den Kopf und schluckte.
»Oh, doch, du schwitzt ja schon wie ein Schwein, du hast Angst, du fette Sau. Riech doch mal, wie es hier stinkt.«
»Och, guck mal, jetzt fängt der auch noch zu flennen an«, sagte der Kleinere lachend.
Die beiden waren bestimmt fünfzehn, wenn nicht sogar sechzehn oder siebzehn, dachte Markus. Auf jeden Fall viel größer und stärker als er.
»Wir wollen uns das doch nur ausleihen«, sagte der Größere und packte den Lenker von Markus’ Fahrrad. »Du kriegst es auch wieder.«
»Irgendwann«, sagte der Kleinere und grinste.
Markus sah sich in der ruhigen Straße um, aber die Fenster waren nicht mehr als blinde schwarze Glasflächen. Normalerweise war er froh, wenn niemand ihn beobachtete. Normalerweise sehnte er sich danach, unsichtbar zu sein, sich durch das Tor zu schleichen und ungesehen zu dem leerstehenden gelben Haus zu gelangen. Doch jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass irgendwo ein Fenster aufging und ein Erwachsener herüberrief, dass die großen Jungs verschwinden sollten. Zurück nach Tåsen oder Nydalen oder woher sie auch kamen. Stattdessen war es vollkommen still. Sommerstill. Ferienzeit. Die anderen Kinder waren mit ihren Eltern auf irgendwelchen Hütten, am Strand oder im Ausland. Für Markus kein großer Unterschied, da kaum jemand mit ihm spielte. Das Leben war wirklich nicht ungefährlich, wenn man klein und ganz allein unterwegs war.
Als der größere Junge Markus den Lenker aus der Hand riss, spürte er, dass er die Tränen nicht mehr lange zurückhalten konnte. Seine Mutter hatte das Fahrrad mit dem Ersparten bezahlt, mit dem sie sonst hätten Ferien machen können.
»Mein Papa ist zu Hause«, sagte er und zeigte auf das rote Haus am Ende der Straße. Es stand schräg gegenüber dem leerstehenden gelben, in dem er gerade gewesen war.
»Und warum hast du dann noch nicht nach ihm gerufen?« Der Junge nahm auf dem Fahrrad Platz und wippte etwas, er schien mit der wenigen Luft in den Reifen unzufrieden zu sein.
»Papa!«, schrie Markus, hörte aber selbst, wie halbherzig und falsch sein Rufen klang.
Beide Jungs lachten laut. Der andere hatte sich auf den Gepäckträger gesetzt, und Markus fiel auf, dass der Reifen fast von der Felge rutschte.
»Ich glaube, du hast gar keinen Papa«, sagte er und spuckte auf den Boden. »Fahr los, Herman!«
»Versuch ich ja, aber du musst loslassen.«
»Wie loslassen?«
Alle drei drehten sich um.
Ein Mann stand hinter dem Fahrrad und hielt den Gepäckträger fest. Dann hob er das Hinterrad an, und beide Jungs kippten nach vorne. Sie stiegen ab und starrten den Mann an.
»He, verdammt, was machen Sie?«, fauchte der Größere.
Der Mann antwortete nicht, er sah sie nur an. Markus registrierte seine merkwürdigen Haare, das Heilsarmee-Emblem auf dem T-Shirt und die Wunden an den Unterarmen. Auf einmal war es so still, dass Markus glaubte, in ganz Berg die Vögel singen zu hören. Auch die beiden Jungs schienen die Unterarme des Mannes bemerkt zu haben. Die Stimme des größeren Jungen hatte plötzlich einen anderen Klang, beklommen und dünn, als er sagte:
»Nehmen Sie es ruhig.«
Der Mann ließ sie nicht aus den Augen. Dann gab er Markus ein Zeichen, das Fahrrad zu halten. Die zwei Jungs wichen zurück.
»Wo wohnt ihr?«
»In Tåsen. Sind Sie … sind Sie sein Vater?«
»Kann schon sein. Nächster Halt Tåsen, verstanden?«
Die Jungen nickten synchron. Drehten sich um und marschierten davon.
Markus sah zu dem Mann auf, der ihm zulächelte. Hinter sich hörten sie einen der Jungen sagen: »Der nimmt Drogen, hast du das gesehen?«
»Ich heiße Markus«, sagte er.
»Einen schönen Sommer noch, Markus«, sagte der Mann und ging. Er öffnete das Gartentor des gelben Hauses. Markus hielt die Luft an. Es war ein Haus wie all die anderen Häuser in der Straße, viereckig wie ein Karton, nicht sonderlich groß und mit einem kleinen Garten ringsherum. Es brauchte dringend einen neuen Anstrich, und der Garten schrie förmlich nach einem Rasenmäher. Aber es war das Haus. Der Mann ging direkt zur Kellertreppe. Nicht zum Eingang, wie ein Vertreter oder die Zeugen Jehovas. Wusste er etwa, dass der Schlüssel auf dem Balken über der Kellertür lag? Markus hatte ihn immer wieder dorthin zurückgelegt.
Seine Frage wurde beantwortet, als sich die Kellertür mit einem Knarzen öffnete und kurz darauf wieder ins Schloss fiel.
Markus riss den Mund auf. Solange er sich erinnern konnte, war niemand länger im Haus gewesen. Seine Erinnerung setzte zwar erst im Alter von fünf Jahren ein, also vor sieben Jahren, aber dieses Haus hatte immer leer gestanden. Wer wohnte schon gern in einem Haus, in dem sich jemand umgebracht hatte?
Nur zweimal im Jahr kam ein Mann ins Haus. Markus hatte ihn nur einmal gesehen, aber gleich gewusst, dass das der Mann sein musste, der im Herbst die Heizung ein ganz klein wenig aufdrehte, um sie im Frühling dann wieder auszustellen. Bestimmt zahlte der auch die Stromrechnungen. Mama meinte, ohne Strom wäre dieses Haus schon lange verfallen, sie kannte den Mann aber auch nicht. Er hatte anders ausgesehen als der, der jetzt im Haus war. Da war sich Markus ganz sicher.
Markus entdeckte das Gesicht des Neuankömmlings im Küchenfenster. Das Haus hatte keine Gardinen, weshalb Markus drinnen immer einen Bogen um die Fenster machte. Er wollte ja nicht gesehen werden. Der Mann machte nicht den Eindruck, als drehte er irgendwo irgendwelche Heizungen an. Was machte er denn nur da drinnen? Wie …? Dann fiel Markus sein Teleskop ein.
Markus schob das Fahrrad durch das Tor des Grundstücks mit dem roten Haus und stürmte nach oben in sein Zimmer im ersten Stock. Das Teleskop, eigentlich ein ganz normales Fernrohr, war alles, was von seinem Vater geblieben war, nachdem er sie verlassen hatte. Das sagte jedenfalls Mama. Markus richtete das Fernrohr auf das gelbe Haus und stellte es scharf. Der Mann war verschwunden. Markus fuhr mit dem kreisrunden Blickfeld an der Hauswand entlang, von Fenster zu Fenster. Und im Schlafzimmer entdeckte er ihn wieder. Dort hatte der Drogensüchtige gewohnt. Markus kannte jede Ecke und jeden Winkel dieses Hauses, er hatte es regelrecht erforscht. Sogar das Versteck unter den losen Dielen im Schlafzimmer mit dem Doppelbett hatte er gefunden. Um keinen Preis hätte er im Haus wohnen wollen, auch nicht, wenn dort niemand gestorben wäre. Denn zum Schluss hatte der drogensüchtige Sohn des Toten allein dort gewohnt und alles verkommen lassen. Die Unordnung war gewaltig, und repariert hatte er auch nichts, es kam Wasser durchs Dach, wenn es regnete. Der Sohn war aber kurz nach Markus’ Geburt verschwunden. Ins Gefängnis, sagte Mama. Er sollte jemanden umgebracht haben. Markus nahm an, dass auf dem Haus vielleicht ein Fluch lag und die, die dort wohnten, entweder sich selbst oder andere töteten. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Dabei hatte ihn ja gerade das Geheimnisvolle so fasziniert. Es war gruselig, und man konnte sich immer neue Geschichten rund um das Haus ausdenken. Nur dass er heute nichts erfinden musste, heute passierte da drinnen wirklich etwas, von ganz allein.
Der Mann hatte ein Fenster geöffnet, verständlich, es roch da drinnen auch nicht gut. Markus mochte diesen Raum am liebsten, trotz des dreckigen Bettzeugs, der Spritzen auf dem Boden und der blutigen Wattebäuschchen, die überall herumlagen. Jetzt stand der Mann mit dem Rücken zum Fenster und betrachtete die mit Heftzwecken an der Wand befestigten Bilder, die Markus sich so gern ansah. Es waren Familienfotos, auf denen drei Menschen so richtig glücklich aussahen. Der Junge im Ringeranzug, der gemeinsam mit seinem Vater den Pokal in die Höhe reckte. Das Bild des Vaters in Polizeiuniform.
Der Mann öffnete den Schrank und nahm den grauen Kapuzenpulli und die Sporttasche mit dem weißen Aufdruck des Osloer Ringerclubs heraus. Er schien noch ein paar andere Sachen in die Tasche zu packen, Markus konnte aber nicht erkennen, was es war. Dann verließ der Mann das Zimmer. Kurz darauf tauchte er im »Büro« wieder auf, dem kleinen Raum mit dem Schreibtisch am Fenster. Mama sagte, dass sie dort den Toten gefunden hatten. Der Mann suchte neben dem Fenster nach etwas. Markus wusste genau, wonach, aber es war nicht leicht zu finden, wenn man sich nicht auskannte. Dann stand der Mann wieder vor dem Schreibtisch, und es sah so aus, als zöge er die Schublade heraus. Da er aber die Sporttasche auf den Tisch gestellt hatte, konnte Markus das nur vermuten.