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Entweder hatte er gefunden, was er suchte, oder er hatte es aufgegeben, denn er nahm die Sporttasche und verließ das Büro. Kurz darauf tauchte er im Schlafzimmer der Erwachsenen auf, bevor er nach unten ging und aus Markus’ Blickfeld verschwand.

Zehn Minuten später öffnete sich die Kellertür, und der Mann kam die Treppe hoch. Er hatte den Pulli an, die Kapuze hochgezogen, und die Tasche hatte er sich über die Schulter gehängt. Er ging durch den Garten zum Zaun.

Markus rannte nach unten und stürmte durch die Tür. Er sah den Rücken des Kapuzenpullis über den Zaun des gelben Hauses springen und schlich selbst zur Kellertür. Gespannt tastete er mit den Fingern über den Balken. Der Schlüssel war noch da! Erleichtert atmete er aus. Er hatte keine Angst, nicht wirklich, schließlich war das sein Haus. Der Eindringling war der andere. Wenn der nicht …

Er rannte nach oben ins Büro. Steuerte gleich auf die gut gefüllten Regale zu. Auf dem zweiten Brett schob er die Finger zwischen Herr der Fliegen und Die Disteln brennen. Der Schlüssel der Schreibtischschublade war da. Aber war er gefunden und benutzt worden? Er steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn herum. Sein Blick fiel auf die Tischplatte. Auf dem Holz war ein dunkler Fleck. Natürlich konnte das auch ein alter Handabdruck sein. Markus zweifelte aber nicht daran, dass er von dem Kopf stammte, der da in einer Blutlache gelegen hatte. An der Wand waren Blutspritzer gewesen, genau wie im Film.

Markus starrte in die Schublade und hielt den Atem an. Sie war nicht mehr da. Er musste es also wirklich gewesen sein. Der Sohn war zurückgekommen. Niemand sonst konnte wissen, wo der Schlüssel der Schreibtischschublade lag. Und er hatte Einstichwunden an den Armen …

Markus ging in das Zimmer des Jungen. Sein Zimmer. Sah sich um und bemerkte sofort, was fehlte. Das Bild des Vaters in der Polizeiuniform. Der Discman. Und eine der vier CDs. Er ging die Titel der drei anderen durch. Violator von Depeche Mode fehlte. Markus hatte sie sich angehört, die Musik aber nicht sonderlich gemocht.

Er setzte sich in die hinterste Ecke des Raums, um von der Straße aus nicht gesehen zu werden, und lauschte in die sommerliche Stille. Der Sohn war zurück. Markus hatte für den Jungen auf dem Bild ein ganzes Leben erfunden. Er war aber nicht auf den Gedanken gekommen, dass dieses Leben weiterging, der Junge älter wurde und zurückkommen konnte. Jetzt hatte er sich geholt, was in der Schreibtischschublade gelegen hatte.

Markus hörte, dass die Stille von einem Geräusch durchbrochen wurde. Das Brummen eines Motors näherte sich.

»Sind Sie sicher, dass die Nummern nicht andersherum laufen?«, fragte Kari und suchte die Fassaden der nüchternen Holzhäuser nach Ziffern ab, um sich zu orientieren. »Vielleicht sollten wir den da fragen.«

Sie nickte in Richtung eines Mannes, der mit gesenktem Blick auf sie zukam. Er hatte sich die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen und trug eine rote Tasche über der Schulter.

»Das Haus liegt hinter dem Hügel da«, sagte Simon und gab Gas. »Vertrauen Sie mir.«

»Dann kannten Sie also seinen Vater?«

»Ja. Was haben Sie über den Sohn herausgefunden?«

»Die paar Leute im Gefängnis, die über ihn reden wollten, halten ihn für einen ruhigen, friedfertigen Menschen, den eigentlich auch alle gemocht hätten. Richtige Freunde hatte er aber keine, er soll sehr zurückgezogen gelebt, nicht viel gesagt haben. Verwandte konnte ich nicht finden. Die Adresse hier ist die letzte vor seiner Festnahme.«

»Hausschlüssel?«

»Die waren bei seinen persönlichen Sachen im Gefängnis. Sie haben mich gar nicht erst nach einer Genehmigung gefragt, wegen des Ausbruchs lag der Durchsuchungsbescheid ohnehin vor.«

»Dann waren vor uns schon andere da?«

»Nur um zu überprüfen, ob er nach Hause gegangen ist. Aber für so dumm hat ihn eigentlich niemand gehalten.«

»Keine Freunde, keine Verwandten, kein Geld. Viele Möglichkeiten bleiben ihm da nicht. Sie werden schon noch merken, dass Verurteilte oft überraschend dumm sind.«

»Das ist mir durchaus bekannt, aber diese Flucht ist nicht gerade das Werk eines Idioten.«

»Wohl eher nicht, nein«, sagte Simon.

»Ganz sicher nicht«, betonte Kari. »Sonny Lofthus hatte in der Schule ausgezeichnete Noten, und in seiner Altersklasse war er landesweit einer der besten Ringer. Nicht weil er der Stärkste war, sondern weil er ein so guter Taktiker gewesen ist.«

»Sie haben gründliche Arbeit geleistet.«

»Nein«, sagte sie. »Google, PDFs von alten Zeitungsartikeln und ein paar Telefonate. Nicht gerade Hexenwerk.«

»Da ist das Haus«, sagte er.

Sie stellten den Wagen ab, stiegen aus, und Kari öffnete das Gartentor.

»Ganz schön verfallen«, sagte sie.

Simon holte seine Dienstwaffe hervor und entsicherte sie, und Kari schloss die Haustür auf. Dann ging er mit gezogener Waffe als Erster ins Haus. Neben dem Eingang blieb er stehen und lauschte. Er drückte den Lichtschalter, und eine Lampe an der Wand ging an. »Oh«, flüsterte er, »ungewöhnlich für ein leerstehendes Haus. Normalerweise stellt man den Strom ab. Könnte darauf hindeuten, dass kürzlich …«

»Falsch«, sagte Kari. »Habe ich überprüft. Die ganze Haftzeit hindurch ist der Strom für diese Adresse von einem Fonds auf den Cayman-Inseln bezahlt worden. Wer dahintersteckt, ist unklar. Es geht nicht um große Summen, aber …«

»… na, seltsam ist das schon«, sagte Simon. »Aber okay, als Ermittler lieben wir ja solche Rätsel.«

Er ging über den Flur in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ausgeschaltet, obwohl im Innern noch ein einzelner Milchkarton stand. Er nickte Kari zu, die ihn kurz fragend ansah, dann verstand sie. Sie roch an der Öffnung des Kartons und schüttelte ihn. Ein Klumpen flog hin und her, der einmal Milch gewesen war. Dann folgte sie Simon durchs Wohnzimmer und über die Treppe nach oben. Sie überprüften alle Räume und betraten schließlich das Zimmer, das einmal das Kinderzimmer gewesen sein musste. Simon blieb stehen und schnupperte.

»Die Familie«, sagte Kari und zeigte auf eines der Bilder an der Wand.

»Ja«, erwiderte Simon.

»Die Mutter erinnert mich an eine Schauspielerin oder Sängerin.«

Simon antwortete nicht. Er starrte auf das Bild, das fehlte. Genauer gesagt: auf den hellen Fleck auf der Tapete, der verriet, dass dort einmal ein Foto gehangen hatte. Dann schnupperte er wieder.

»Ich habe Sonnys alten Lehrer erreicht«, sagte Kari. »Er hat mir erzählt, dass Sonny früher mal Polizist werden wollte, wie sein Vater. Und dass er sich nach dessen Tod vollkommen verändert hat. Plötzlich gab es Probleme in der Schule, er stieß Menschen von sich, suchte die Einsamkeit und die Selbstzerstörung. Auch seine Mutter ist an dem Selbstmord zerbrochen. Sie …«

»Helene«, sagte Simon.

»Was?«

»Ihr Name war Helene. Sie hat Schlaftabletten genommen.« ­Simons Blick schweifte durch den Raum und blieb an dem staubigen Nachttisch hängen. Kari referierte weiter.

»Als Sonny achtzehn war, legte er ein Geständnis ab und wurde wegen zweifachen Mordes verurteilt.«

Da war ein Streifen im Staub.

»Bis dahin hatten die Ermittlungen der Polizei etwas ganz anderes vermuten lassen.«

Simon war mit zwei schnellen Schritten am Fenster. Die Nachmittagssonne schien auf ein Fahrrad, das vor dem roten Haus am Treppengeländer lehnte. Er schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren, aber es war niemand mehr zu sehen.

»Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen«, sagte er.