Rover drehte an einer Schraube auf der Unterseite des Schafts.
»Das Magazin fasst zwei Neun-Millimeter-Kugeln. Ich habe dieses Ding ›Paartherapie‹ genannt.« Rover richtete den Lauf auf den Jungen. »Eine für dich, mein Schatz …« Dann hielt er sich den Lauf an die Schläfe. »Und eine für mich …« Rovers Lachen klang in der kleinen Zelle merkwürdig einsam.
»Aber egal. Eigentlich sollte ich nur eine bauen, der Auftraggeber wollte nicht, dass irgendjemand das Geheimnis dieser Erfindung kannte. Aber ich habe noch eine gebaut. Und sie mitgenommen, sollte Nestor mir jemanden auf den Hals hetzen. Aber jetzt, da ich hier morgen rauskomme, brauche ich sie nicht mehr. Sie gehört dir. Und hier …« Rover zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner anderen Tasche. »Sieht komisch aus, wenn du keine Zigaretten dazu hast, nicht wahr?« Er riss das Plastik vom oberen Teil der Schachtel, öffnete sie und schob eine vergilbte Visitenkarte von Rovers Motorradwerkstatt hinter die Zigaretten.
»Hier hast du meine Adresse, solltest du mal ein kaputtes Motorrad haben. Oder eine Uzi brauchen. Wie gesagt, ich hab da noch ein paar …«
Die Tür ging auf, und eine Stimme donnerte: »Raus mit dir, Rover!«
Rover drehte sich um. Die Hose des Wachmanns, der in der Tür stand, hatte wegen des schweren Schlüsselbundes, der an seinem Gürtel hing, Schlagseite, ganz genau konnte man es aber nicht sehen, denn sein dicker Bauch quoll unter dem Hemd hervor wie aufgegangener Hefeteig. »Eure Heiligkeit hier hat schon den nächsten Besuch. Wenn du so willst, von einem nahen Verwandten.« Er lachte wiehernd und drehte sich zu der hinter ihm stehenden Person um. »Nichts für ungut, Per. Okay?«
Rover schob die Pistole und das Zigarettenpäckchen unter die Decke des Jungen, stand auf und sah ihn ein letztes Mal an. Dann ging er schnell nach draußen.
Der Gefängnispastor rückte seinen neuen weißen Kragen zurecht, der irgendwie nie richtig sitzen wollte. Ein naher Verwandter. Nichts für ungut, Per. Am liebsten hätte er dem grinsenden Wachmann in sein aufgedunsenes Gesicht gespuckt. Stattdessen nickte er dem Häftling, der aus der Zelle kam, freundlich zu und tat so, als würde er ihn kennen. Er warf prüfend einen Blick auf die Tätowierungen an den Unterarmen. Madonna und Kathedrale. Aber nein, es waren in diesen Jahren einfach zu viele Gesichter, zu viele Tätowierungen gewesen, als dass er sie noch auseinanderhalten könnte.
Er ging in die Zelle. Drinnen roch es nach Rauch. Oder nach etwas, das an Rauch erinnerte. Vielleicht erhitzte Drogen.
»Guten Tag, Sonny.«
Der junge Mann auf dem Bett sah nicht auf, nickte aber langsam. Per Vollan nahm das als ein Zeichen, wiedererkannt worden zu sein, akzeptiert.
Er setzte sich auf den noch warmen Stuhl, und ein Anflug von Ekel erfasste ihn, genau dort zu sitzen, wo auch der Häftling gesessen hatte. Dann legte er die mitgebrachte Bibel neben dem Jungen aufs Bett.
»Ich habe heute Blumen auf das Grab deiner Eltern gelegt«, sagte er. »Ich weiß, du hast mich nicht darum gebeten, aber …«
Per Vollan versuchte, den Blick des Jungen einzufangen. Er hatte selbst zwei erwachsene Söhne, die das Elternhaus inzwischen verlassen hatten. Wie Vollan auch. Nur mit dem Unterschied, dass seine beiden Söhne dort noch immer willkommen waren. Ein Zeuge der Verteidigung, ein Lehrer, hatte in Sonnys Verfahren betont, er sei ein Musterschüler gewesen, ein talentierter Ringer, bei allen beliebt und immer hilfsbereit. Ja, einmal hätte er sogar gesagt, dass er gerne in die Fußstapfen seines Vaters treten und Polizist werden wollte. Nachdem dann allerdings sein Vater Selbstmord begangen hatte und der Abschiedsbrief gefunden worden war, in dem dieser zugab, korrupt zu sein, war er nur noch selten in der Schule aufgetaucht.
Der Pastor versuchte sich vorzustellen, wie sehr der Fünfzehnjährige sich geschämt haben musste. Wie würden seine eigenen Söhne reagieren, sollten sie jemals erfahren, was ihr Vater getan hatte? Er zupfte an seinem Kragen herum.
»Danke«, sagte Sonny.
Per staunte auch an diesem Tag wieder, wie jung Sonny aussah, dabei musste der Junge langsam auf die dreißig zugehen. Ja, das kam hin. Er hatte zwölf Jahre seiner Strafe abgesessen und war mit achtzehn verurteilt worden. Vielleicht hatten die Drogen ihn mumifiziert, den Alterungsprozess gestoppt, so dass nur Haare und Bart wuchsen, während die Kinderaugen noch immer verwundert in die Welt blickten. Eine finstere Welt. Wie finster, wusste nur Gott. Per Vollan war seit vierzig Jahren Gefängnispastor und hatte den Verfall miterlebt. Das Böse wucherte und hatte sich ausgebreitet wie eine Krebsgeschwulst. Es hatte gesunde Zellen attackiert, sie mit seinem Vampirbiss infiziert und für seine zerstörerische Arbeit rekrutiert. Und niemand, der einmal gebissen worden war, kam jemals wieder frei. Niemand.
»Wie geht’s, Sonny? Wie war der Freigang? Wart ihr am Meer?«
Keine Antwort.
Per Vollan räusperte sich. »Der Beamte hat mir gesagt, dass du am Meer warst. Du weißt ja vielleicht, dass man tags darauf, ganz in der Nähe von der Stelle, wo du gewesen bist, eine ermordete Frau gefunden hat. Zu Hause, bei sich, in ihrem Bett. Ihr Kopf war … na ja … die Details stehen hier.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Bibel. »Der Beamte hat bereits Meldung gemacht, dass du abgehauen bist, als ihr am Meer wart, und dass er dich erst eine Stunde später an der Straße wiedergefunden hat. Du sollst nicht gesagt haben, wo du in der Zwischenzeit gewesen bist. Es ist wie immer wichtig, dass du nichts sagst, was der Aussage dieses Wachmanns widerspricht, verstanden? Am besten machst du gar keine Aussage, okay, Sonny?«
Per Vollan bekam Augenkontakt zu dem Jungen, aber dessen Blick verriet ihm wenig. Trotzdem war er sich relativ sicher, dass Sonny Lofthus seinen Instruktionen folgen und nichts Überflüssiges sagen würde, weder zu den Ermittlern noch zum Staatsanwalt. Vermutlich würde er im richtigen Moment still und leise seine Schuld einräumen. Denn auch wenn es sich widersinnig anhörte, der Pastor spürte ab und zu die Entschlossenheit, den Willen, den Überlebensinstinkt dieses Junkies. Er war ganz anders als die anderen, die immer nur ziellos herumdrifteten, nie irgendwelche Pläne hatten und eigentlich zeit ihres Lebens auf dem Weg in diesen Knast gewesen waren. Dieser Wille stieg manchmal an die Oberfläche und zeigte sich dann als klarer Blick oder als eine stumm gestellte Frage, an der man ablesen konnte, dass Sonny die ganze Zeit über zugehört und wirklich alles mitbekommen hatte. Oder aber in der Art, wie Sonny plötzlich und unvermittelt aufstand, kerzengerade, ausbalanciert und geschmeidig, wie man es bei keinem anderen Langzeitabhängigen jemals sah. In anderen Momenten, wie diesem, war hingegen nicht zu sagen, ob er überhaupt etwas mitbekam.
Vollan rutschte auf seinem Stuhl herum.
»Das heißt leider auch, dass mit Freigang erst einmal Schluss ist. Für die nächsten Jahre. Aber draußen gefällt es dir ja ohnehin nicht, oder? Und das Meer hast du jetzt ja gesehen.«
»Das war ein Fluss. War es der Ehemann?«
Der Pastor zuckte zusammen. Als wäre direkt vor ihm etwas Unerwartetes durch eine stille schwarze Wasseroberfläche gebrochen. »Das weiß ich nicht. Ist das wichtig?«
Keine Antwort. Vollan seufzte und spürte wieder die Übelkeit, die in letzter Zeit zu einem ständigen Begleiter geworden war. Vielleicht sollte er wirklich mal zum Arzt gehen und sich durchchecken lassen.
»Mach dir darüber keine Gedanken, Sonny. Entscheidend ist doch, dass Menschen wie du da draußen nichts anderes tun können, als den ganzen Tag über dem nächsten Schuss nachzujagen. Während hier drinnen für alles gesorgt wird. Und vergiss nicht, dass Zeit vergeht. Hast du die Strafen für die letzten Morde erst abgesessen, kann dir keiner mehr helfen. Mit diesem Mord kannst du deine Frist verlängern.«
»Es war der Ehemann. Dann ist er reich?«
Vollan zeigte auf die Bibel. »Das Haus, in das du eingebrochen bist, ist hier drin beschrieben. Es wirkt groß und gut eingerichtet. Aber die Alarmanlage, die all den Reichtum schützen sollte, war nicht eingeschaltet. Die Haustür war nicht mal verschlossen. Der Name lautet Morsand. Das ist der Reeder mit der Augenklappe. Du hast ihn vielleicht schon mal in der Zeitung gesehen.«