Der Schmuck fiel klirrend in die Sporttasche.
Anschließend verschwand er im Badezimmer. Und kam mit Zahnbürsten in der Hand wieder heraus, ihre, Ivers und Iver juniors. Entweder musste er sehr arm oder sehr gestört sein, oder beides.
Er trat wieder neben sie, beugte sich zu ihr herunter und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Tut es weh?«
Es gelang ihr, den Kopf zu schütteln. Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben.
Er nahm die Hand weg, und sie spürte, wie sich die Gummihandschuhfinger um ihren Hals legten. Daumen und Zeigefinger auf ihrer Pulsader. Wollte er sie erdrosseln? Aber er drückte nicht fest zu.
»Ihr Herz wird gleich zu schlagen aufhören«, sagte er, stand auf und ging zur Tür. Bevor er sie hinter sich schloss, wischte er noch die Klinke mit einem Putzlappen ab. Gleich darauf fiel das Gartentor ins Schloss. In diesem Moment hatte Agnete Iversen Gewissheit. Die Kälte kam. Sie war schon in den Füßen und Händen zu spüren. Dann am Kopf, ganz oben an der Stirn. Und schließlich fraß sie sich von beiden Seiten immer näher an ihr Herz heran, dicht gefolgt von der Dunkelheit.
Sara sah zu dem Mann hinüber, der an der Haltestelle am Holmenkollen in die U-Bahn gestiegen war. Er saß in dem Wagen, den sie selbst verlassen hatte, weil drei Jugendliche mit falsch herum aufgesetzten Schirmmützen in Voksenlia zugestiegen waren. In den Ferien waren nach der morgendlichen Rushhour kaum noch Menschen unterwegs. Sie hatte ganz allein dort gesessen. Die drei verloren jedenfalls keine Zeit und drangsalierten auch den Mann. Der kleinste, allem Anschein nach der Anführer, machte sich über seine Joggingschuhe lustig und verlangte dann, dass er den Wagen verließe. Er spuckte vor ihm auf den Boden. Verdammte Gangster-Wannabes. Plötzlich hatte einer der beiden anderen, ein blonder, hübscher Junge, bestimmt irgendein Direktorensöhnchen, ein Klappmesser in der Hand. Mein Gott, die wollten doch nicht … Er schwang das Messer in Richtung des Mannes. Sara hätte fast aufgeschrien, doch aus dem anderen Wagen dröhnte Gelächter zu ihr herüber. Der Junge hatte das Messer zwischen den Beinen des Mannes in den Sitz gestoßen. Der Anführer ergriff wieder das Wort. Er gab dem Mann fünf Sekunden, den Wagen zu verlassen, und dieser stand tatsächlich auf, zögerte aber einen Moment lang. Dann nahm er seine rote Tasche und wandte sich in ihre Richtung ab.
»Schlappschwanz!«, schrien sie ihm nach. Und lachten wieder.
Es waren nur sie, der Mann und die drei Jugendlichen im Zug. Auf dem Gelenk zwischen den beiden Wagen blieb der Mann ein paar Sekunden balancierend stehen, ihre Blicke begegneten sich. Sie konnte keine Angst in seinem Blick entdecken, wusste aber, dass sie da war. Die Angst des ebenso zivilisierten wie degenerierten Wesens, das lieber sein Revier aufgab und fortzog, als sein Territorium zu verteidigen, wenn jemand die Zähne fletschte und bereit war, physische Gewalt auszuüben. Sara verachtete ihn. Sie verachtete seine Schwäche. Die verdammte, ach so wohlgemeinte Freundlichkeit, mit der er sich umgab. Eigentlich wünschte sie sich, die drei hätten ihn zusammengeschlagen. Ihn ein bisschen Hass gelehrt. Und sie hoffte, dass er die Verachtung in ihrem Blick wahrnahm und ein bisschen kleiner wurde und den Hals einzog und sich zu winden begann.
Doch stattdessen lächelte er ihr zu, murmelte ein bescheidenes Hallo, setzte sich zwei Bänke entfernt hin und sah verträumt aus dem Fenster, als wäre nichts geschehen. Mein Gott, was war nur aus ihnen geworden? Eine Schar verängstigter Lämmer, die nicht mal mehr den Mumm hatte, sich zu schämen. Am liebsten hätte sie selbst vor ihm auf den Boden gespuckt.
Kapitel 17
»Und da heißt es, Norwegen habe keine Oberschicht.« Simon Kefas hob das weiß-orangefarbene Absperrband an, damit Kari Adel darunter hindurchtauchen konnte.
Vor der Doppelgarage wurden sie von einem uniformierten Polizisten angesprochen. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, und er atmete schwer. Sie zeigten ihm ihre Ausweise, und er kontrollierte die Fotos und bat Simon, die Sonnenbrille abzunehmen.
»Wer hat sie gefunden?« Simon blinzelte in die grelle Sonne.
»Die Hausangestellten«, sagte der Polizist. »Sie sind gegen zwölf gekommen und haben gleich den Notruf gewählt.«
»Irgendwelche Zeugen?«
»Gesehen hat niemand was«, sagte der Polizist. »Aber die Nachbarin meint einen Knall gehört zu haben. Sie dachte allerdings eher an einen geplatzten Reifen. Schüsse vermutet man hier oben weniger.«
»Danke«, sagte Simon, setzte die Sonnenbrille wieder auf und ging vor Kari die Treppe hoch. Ein weißgekleideter Kriminaltechniker untersuchte mit einem kleinen schwarzen Pinsel die Haustür. Miniaturwimpel markierten den Pfad, der von der Kriminaltechnik freigegeben worden war und der sie zur Küche führte, wo die Tote auf dem Boden lag. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und glitzerte auf dem Wasser rings um die zerbrochene Vase mit den Margeriten. Neben der Leiche hockte ein schwarzgekleideter Mann, der Simon unbekannt war, und konferierte mit dem Gerichtsmediziner.
»Entschuldigung?«, sagte Simon. Der Mann in dem schwarzen Anzug blickte auf. Seine Haare glänzten von allerlei Produkten, und der sorgsam gestutzte schmale Backenbart ließ Simon automatisch an einen Italiener denken. »Wer sind Sie?«
»Ich könnte Sie das Gleiche fragen.« Der Mann machte keine Anstalten aufzustehen. Simon schätzte ihn auf Anfang dreißig.
»Kommissar Kefas vom Morddezernat.«
»Angenehm, Åsmund Bjørnstad, Hauptkommissar des Kriminalamts, Kripos. Man könnte meinen, Sie wären nicht darüber informiert worden, dass wir den Fall übernehmen?«
»Wer sagt das?«
»In diesem Fall Ihr eigener Chef.«
»Der Kriminalrat?«
Der Anzugmann schüttelte den Kopf und deutete mit dem Finger an die Decke. Simon starrte auf den Fingernagel. Manikürt.
»Der Polizeipräsident?«
Bjørnstad nickte. »Er hat Kripos informiert und uns gebeten, lieber gleich zu kommen.«
»Warum das denn?«
»Vermutlich weil er unsere Unterstützung so oder so angefordert hätte, in diesem Fall.«
»Und dann übernehmen Sie einfach alles?«
Åsmund Bjørnstad lächelte knapp. »Hören Sie, das war nicht meine Entscheidung. Aber wenn das Kriminalamt gebeten wird, bei einem Mordfall zu assistieren, stellt es immer die Bedingung, die Ermittlungen auch zu leiten, sowohl taktisch als auch technisch.«
Simon nickte. Er wusste das alles, schließlich war es nicht das erste Mal, dass sich das Osloer Morddezernat und das auf nationaler Ebene arbeitende Kriminalamt in die Quere kamen. Und er sollte sich glücklich schätzen, einen Fall weniger am Hals zu haben. So konnte er sich voll und ganz auf den Vollan-Fall konzentrieren.
»Da wir aber schon mal hier sind, können wir doch wohl auch einen Blick riskieren, oder?«, sagte Simon.
»Und wofür soll das gut sein?« Bjørnstad ließ seiner Verärgerung freien Lauf.
»Ich bin mir sicher, dass Sie alles unter Kontrolle haben, Bjørnstad, aber ich habe eine neue, noch junge Ermittlerin bei mir, für die es sicher nützlich wäre, eine reale Tatortaufnahme mitzumachen. Wäre das in Ordnung für Sie?«
Der Kripos-Beamte sah zögernd zu Kari hinüber und zuckte mit den Schultern.
»Gut«, sagte Simon und hockte sich ebenfalls hin.
Erst jetzt richtete er den Blick auf die Tote. Er hatte den Anblick bewusst vermieden, darauf gewartet, sich wirklich mit allen Sinnen auf den toten Körper konzentrieren zu können. Für den ersten Eindruck gab es schließlich nur eine Chance. Der fast kreisrunde Blutfleck auf der weißen Schürze der Toten ließ ihn an die japanische Flagge denken. Nur dass die Sonne für die Frau, die mit leerem Blick an die Decke starrte, definitiv unter- und nicht aufgegangen war. Daran würde Simon sich nie gewöhnen. Offenbar irritierte ihn die Kombination aus menschlichem Körper und einem entmenschten Blick. Die Abwesenheit von Leben, der Mensch als Ding.