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Offensichtlich war, dass man dem Opfer, ihr Name war wohl Agnete Iversen, in die Brust geschossen hatte. Allem Anschein nach nur ein einziges Mal. Er betrachtete ihre Hände. Nicht ein Nagel war gebrochen, und die Finger zeigten keine Anzeichen eines Kampfes. Im Nagellack des linken Mittelfingers war ein Kratzer, aber der konnte beim Sturz entstanden sein.

»Gibt es Spuren eines Einbruchs?«, fragte Simon und gab dem Rechtsmediziner zu verstehen, dass er die Leiche umdrehen sollte.

Hauptkommissar Bjørnstad schüttelte den Kopf. »Es ist möglich, dass die Tür offen stand, der Ehemann und ihr Sohn waren gerade vorher zur Arbeit gefahren. Es sind auch keine Fingerabdrücke auf der Klinke.«

»Keine?« Simon ließ seinen Blick über den Rand der Arbeitsplatte gleiten.

»Nein, wie Sie sehen, hielt sie hier Ordnung.«

Simon studierte die Austrittswunde in Agnetes Rücken. »Glatter Durchschuss. Die Kugel scheint keine Knochen getroffen zu haben.«

Der Rechtsmediziner kniff die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern, eine Geste, die vage Zustimmung signalisierte.

»Und die Kugel?«, fragte Simon und musterte die Küchenwand.

Åsmund Bjørnstad zeigte widerwillig schräg nach oben.

»Danke«, sagte Simon. »Und die leere Hülse?«

»Ist noch nicht gefunden worden.« Der Ermittler zog ein Handy mit goldener Hülle aus der Tasche.

»Verstehe. Wie lautet Ihre vorläufige Theorie, was ist hier passiert?«

»Theorie?« Bjørnstad lächelte und hielt sich das Handy ans Ohr. »Das ist doch wohl klar. Der Dieb ist eingedrungen, hat sein Opfer hier drinnen erschossen, die Wertsachen mitgenommen, die er finden konnte, und ist dann geflohen. Ein geplanter Raub, der zu einem vorher nicht geplanten Mord führte, denke ich. Vielleicht hat sie Widerstand geleistet oder zu schreien angefangen.«

»Und wie meinen Sie …?«

Bjørnstad hob die Hand, um zu signalisieren, dass er jemanden in der Leitung hatte. »Hallo, ich bin’s. Wir haben es hier ­vermutlich mit Mord und schwerem Raub zu tun, kannst du mir sagen, welche gewalttätigen Räuber derzeit auf freiem Fuß sind? Und überprüf bitte gleich auch, ob die in Oslo sein können. Mit Priorität auf Schusswaffengebrauch. Danke.« Er beendete das Gespräch und ließ das Handy in seine Tasche gleiten. »Hören Sie, Opa, ich habe hier einen Job zu erledigen, und Sie ­haben ja bereits eine Assistentin, wenn Sie also so freundlich wären …«

»Schon gut«, sagte Simon mit einem breiten Lächeln. »Aber wenn wir versprechen, nicht im Weg herumzustehen, können wir uns ja vielleicht auf eigene Faust ein bisschen umsehen?«

Der Kripos-Beamte sah den älteren Kollegen misstrauisch an.

»Wir bleiben auch auf den gekennzeichneten Wegen.«

Bjørnstad willigte mit herablassendem Blick ein.

»Hier hat er gefunden, was er gesucht hat«, sagte Kari, als sie vor dem Bett im Schlafzimmer mit dem dicken Wandteppich standen. Auf der Bettdecke lagen eine geöffnete Handtasche, eine leere Geldbörse und ein ebenso leeres Schmuckkästchen mit rotem Samtfutter.

»Vielleicht.« Simon verließ den gekennzeichneten Bereich und hockte sich neben dem Bett hin. »Er muss in etwa hier gestanden haben, als er die Tasche und das Schmuckkästchen leer geräumt hat, nicht wahr?«

»So wie die Sachen auf dem Bett liegen, ja.«

Simon studierte den Teppich unter sich. Er wollte schon wieder aufstehen, als er in der Bewegung innehielt und sich tief nach unten beugte.

»Was ist da?«

»Blut«, sagte Simon.

»Er hat auf den Teppich geblutet?«

»Kaum, das ist ein kleines Rechteck, vermutlich also eher ein Abdruck. Wenn Sie hier im Nobelviertel der Stadt in diese Villa einbrechen würden, wo würden Sie dann den Safe vermuten?«

Kari zeigte auf den Kleiderschrank.

»Das sehe ich auch so«, sagte Simon, stand auf und öffnete den Schrank.

Der Safe war in der Mitte der Wand platziert und etwa so groß wie ein Mikrowellenherd. Simon versuchte ihn zu öffnen, aber er war verschlossen.

»Wenn er sich nicht die Zeit genommen hat, ihn wieder zu schließen, was in Anbetracht der herumliegenden Tasche und des Schmuckkästchens unwahrscheinlich ist, hat er den hier nicht mal angerührt«, sagte Simon. »Schauen wir mal, ob die Tote jetzt allein ist.«

Auf dem Rückweg in die Küche machte Simon einen Schlenker ins Badezimmer und kam mit einer tiefen Falte auf der Stirn wieder heraus.

»Was ist?«, fragte Kari.

»Wussten Sie, dass in Frankreich eine Zahnbürste auf einundvierzig Einwohner kommt?«

»Alte Mythen, alte Statistiken«, antwortete sie.

»Alter Mann«, sagte Simon. »Aber egal, in der Familie Iversen scheint niemand eine Zahnbürste zu benutzen.«

Sie gingen in die Küche, wo Agnete Iversen inzwischen allein gelassen worden war. Simon konnte sie ungehindert in Augenschein nehmen. Er musterte ihre Hände und studierte dann die Ein- und Austrittswunde. Schließlich bat er Kari, sich direkt vor die Füße der Toten und mit dem Rücken zur Arbeitsplatte zu stellen.

»Ich entschuldige mich schon mal im Voraus«, sagte er, stellte sich neben sie, legte einen Zeigefinger auf die Stelle, wo die Kugel bei Agnete Iversen eingetreten war, zwischen Karis kleine Brüste und den anderen auf die Stelle des Austritts zwischen ihren Schulterblättern. Dann betrachtete er den Winkel zwischen beiden Punkten, bevor sein Blick zu dem Einschussloch oben in der Wand schweifte. Schließlich bückte er sich, knickte die Blüte von einer der Margeriten ab, stemmte sich mit dem Knie auf die Arbeitsplatte und schob sie in das Einschussloch.

»Kommen Sie«, sagte er, stieg herunter und ging über den Flur zur Eingangstür. Er blieb vor einem Bild stehen, das schief hing, beugte sich vor und zeigte auf etwas Rotes am Rand des Bilderrahmens.

»Blut?«, fragte Kari.

»Nagellack.« Simon stellte sich in die Mitte des Flurs und legte die Rückseite seiner linken Hand an das Bild, bevor er sich noch einmal zur Toten umdrehte.

An der Tür hockte er sich hin und betrachtete einen Erdklumpen, der mit einem Wimpel gekennzeichnet worden war.

»He, nicht anfassen!«

Sie schauten hoch.

»Ach, du bist das, Simon«, sagte der weißgekleidete Mann auf dem Treppenabsatz und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die feuchten Lippen in seinem roten Bart.

»Hallo, Nils, lange nicht gesehen. Sind sie auch nett zu dir bei Kripos?«

Der Rotbärtige zuckte mit den Schultern. »Ja, schon. Vermutlich aber nur, weil ich so alt und längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit bin. Ich tue ihnen wohl leid.«

»Bist du das?«

»Ja, schon«, seufzte der Kriminaltechniker. »Heute zählt doch nur noch DNA, Simon. DNA und Computerprogramme, die Leute wie wir nicht mehr verstehen. Es ist nicht mehr wie früher, Simon.«

»Na ja, so ganz am Ende sind wir noch nicht«, sagte Simon und studierte das Schloss der Tür. »Grüß deine Frau, Nils.«

Der Mann mit dem roten Bart blieb stehen. »Äh, ich habe noch immer …«

»Dann eben deinen Hund.«

»Der ist tot, Simon.«

»Dann vergiss das Grüßen, mach’s gut, Nils.« Simon trat vor die Tür. »Kari, zählen Sie mal bis drei und schreien Sie dann so laut, wie Sie können. Anschließend kommen Sie nach draußen auf die Treppe und bleiben da stehen, okay?«

Sie nickte, und er schloss die Tür.

Kari sah zu Nils, der den Kopf schüttelte und sich über den Flur entfernte. Dann schrie sie aus vollem Hals das Wort »Fore!«, die vorschriftsmäßige Warnung, wenn ihr beim Golfen, was selten genug vorkam, ein Ball komplett verrutschte.

Schließlich öffnete sie die Tür wieder.

Am Fuß der Treppe stand Simon und zielte mit dem Zeigefinger auf sie.

»Ein bisschen zur Seite«, sagte er.

Sie tat, was er verlangte, und bemerkte, dass auch er einen Schritt nach links trat und ein Auge zukniff.

»Er muss genau hier gestanden haben«, sagte Simon und zielte über den Zeigefinger. Sie drehte sich um und schaute direkt auf die weiße Margerite in der Wand.