»Weil er ein ehrgeiziger Ermittler ist, dessen Ego größer als sein Teamgeist ist. In solchen Fällen ist es manchmal besser, ihn das selber herausfinden zu lassen. Er wird motivierter sein, alles zu geben, wenn er das Gefühl hat, seiner eigenen und nicht meiner Spur zu folgen, wenn sie sich auf die Suche nach dem Mann mit Schuhgröße 43 machen, der die leere Hülse aus dem Blumenbeet gefischt hat.«
Sie hielten am Stasjonsveien vor einer roten Ampel. »Und woher wissen Sie, wie ein Ermittler wie Bjørnstad tickt?«
Simon lachte. »Ganz einfach. Ich war auch mal jung und ehrgeizig.«
»Und der Ehrgeiz verschwindet?«
»Ein Teil davon, ja.« Simon lächelte, aber Kari fand, dass er ganz schön traurig aussah. »Haben Sie deshalb im Dezernat für Wirtschaftskriminalität aufgehört?«
»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«
»Sie waren da doch Dezernatsleiter. Erster Hauptkommissar mit Personalverantwortung. Im Morddezernat durften Sie den Titel behalten, aber eigentlich bin ich die Einzige, die Ihnen da untergeordnet ist.«
»Stimmt«, sagte Simon, rollte über die Kreuzung und weiter in Richtung Smestad. »Überbezahlt, überqualifiziert, überflüssig. Im Großen und Ganzen, überfällig.«
»Was ist passiert?«
»Das wollen Sie nicht …«
»Doch, das will ich wissen!«
Sie fuhren schweigend weiter. Kari spürte aber, dass ihr dieses Schweigen in die Karten spielte, weshalb sie den Mund hielt. Trotzdem dauerte es bis hinunter nach Majorstua, bis Simon zu erzählen begann.
»Ich war einer umfangreichen Geldwäscheoperation auf der Spur. Es ging um Riesenbeträge. Und um große Namen. Irgendjemand aus der Führungsetage war aber wohl der Meinung, dass meine Ermittlungen ein gewisses Risiko darstellten. Dass meine Beweise nicht reichten und wir uns den Hals brechen würden, wenn wir die Sache weiterverfolgten, ohne einen wirklichen Erfolg. Diese Leute sind keine normalen Kriminellen, das sind Menschen mit Macht, Menschen, die innerhalb des Systems zurückschlagen können, das normalerweise auf Seiten der Polizei ist. Die Polizeiführung hatte Angst davor, dass wir selbst bei einem Sieg einen hohen Preis zahlen müssten, backlash eben.«
Erneutes Schweigen, das bis zum Frognerparken andauerte, wo Kari die Geduld verlor.
»Dann haben die Sie einfach rausgeschmissen, weil Sie unangenehme Fragen gestellt haben?«
Simon schüttelte den Kopf. »Ich hatte ein Problem. Gambling. Oder um es etwas genauer auszudrücken: Spielsucht. Ich habe Aktien gekauft und verkauft. Nicht viel. Aber wenn man im Dezernat für Wirtschaftskriminalität hockt …«
»… hat man Zugang zu Insiderinformationen.«
»Ich habe nie mit Aktien gehandelt, über die ich Informationen hatte, aber ein Regelverstoß war es trotzdem. Und den haben sie für ihre Zwecke genutzt.«
Kari nickte. Sie schoben sich durch das Zentrum in Richtung Ibsentunnel. »Und jetzt?«
»Jetzt spiele ich nicht mehr. Und nerve auch niemanden mehr.« Wieder dieses traurige, resignierte Lächeln.
Kari dachte an ihre Pläne für den Nachmittag. Training, Essen mit den Schwiegereltern in spe und eine Wohnungsbesichtigung in Fagerborg. Und dann hörte sie sich selbst eine Frage stellen, die aus einem anderen, beinahe unbewussten Teil ihres Gehirns kommen musste: »Was hat es zu bedeuten, dass der Mörder die Hülse mitgenommen hat?«
»Die Hülsen haben Seriennummern, führen uns aber nur selten direkt zum Täter«, sagte Simon. »Vielleicht hatte er Angst, dass sein Fingerabdruck auf der Hülse war, aber ich denke, dieser Mörder hat schon beim Laden der Waffe daran gedacht und Handschuhe getragen. Wir können wohl davon ausgehen, dass er eine relativ neue Schusswaffe hat, die erst in den letzten Jahren produziert worden ist.«
»Warum?«
»Einige Waffenproduzenten sind vor etwa zehn Jahren dazu übergegangen, die Seriennummer auf den Rand des Schlagbolzens zu prägen, so dass er eine Art Fingerabdruck hinterlässt, wenn er auf die Patronenhülse trifft. Die leere Hülse kann dann über das Waffenregister direkt zum Besitzer der Waffe führen.«
Kari schob die Unterlippe vor und nickte nachdenklich. »Okay, das verstehe ich so weit. Ich kapiere aber nicht, warum er will, dass es wie ein Raubmord aussieht.«
»Aus dem gleichen Grund wie das mit der Hülse. Er fürchtet, dass wir ihm auf die Schliche kommen könnten, wenn wir erst sein wahres Motiv kennen.«
»Dann sollte das doch ziemlich einfach sein«, sagte Kari und dachte an die Anzeige. Darin hatte gestanden, die Wohnung habe zwei Balkone, einen mit Morgen- und einen mit Abendsonne.
»Wieso?«, fragte Simon.
»Der Ehemann«, sagte Kari. »Der Ehemann steht doch immer unter Verdacht. Außer es gelingt ihm, es so aussehen zu lassen, als wäre seine Frau aus einem ganz anderen, konkreten Grund umgebracht worden. Wie zum Beispiel Raub.«
»Einem anderen Grund als was?«
»Als Eifersucht. Liebe. Hass. Gibt es noch mehr?«
»Nein«, sagte Simon. »Gibt es nicht.«
Kapitel 18
Am frühen Nachmittag ging ein schwerer Regenschauer über Oslo nieder, aber ohne die Stadt merkbar abzukühlen. Und als kurz darauf die Sonne erneut durch die Wolkendecke brach, schien sie die verlorene Zeit aufholen zu wollen und briet die Hauptstadt in weißem Licht. Dampfschwaden stiegen von Dächern und Straßen auf.
Louis wachte auf, als die Sonne so tief stand, dass die Strahlen sein Gesicht trafen. Er blinzelte in die Welt. Menschen und Autos, die sich vor ihm und seinem Bettelbecher hin und her bewegten. Das Geschäft war nicht schlecht gelaufen, bis vor einigen Jahren aus Rumänien Zigeuner zu ihnen gekommen waren, erst wenige, dann viele. Eine ganze Horde. Ein stehlender, bettelnder, betrügerischer Heuschreckenschwarm. Und wie Heuschrecken sollte man sie eigentlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Louis war ganz entschieden der Meinung, dass norwegische Bettler – nicht anders als norwegische Reeder – Anspruch auf einen gewissen staatlichen Schutz gegen ausländische Konkurrenz hatten. So wie es jetzt lief, war er immer wieder gezwungen zu stehlen, was nicht nur anstrengend, sondern auch wirklich unter seiner Würde war.
Er seufzte und tippte mit einem schmutzigen Zeigefinger gegen den Becher. Hörte er etwas? Keine Münzen. Scheine? Sollte dem so sein, musste er die schnell wegpacken, bevor sie ihm von einem dieser Zigeuner weggeschnappt wurden. Er schaute in den Becher. Kniff die Augen zu und schaute noch einmal hin. Dann schob er die Finger hinein. Es war eine Uhr. Eine Damenuhr. Rolex. Bestimmt eine Kopie. Aber schwer. Sehr schwer. Trugen die Menschen wirklich derart schwere Dinger an ihren Handgelenken? Er hatte gehört, dass diese Uhren sogar unter Wasser funktionierten, und das auch noch in fünfzig Meter Tiefe, vermutlich war das aber nur folgerichtig, wenn man mit derartigen Gewichten schwimmen ging. Konnte es sein, dass …? Manche Menschen waren ja wirklich verrückt, daran gab es keinen Zweifel. Louis ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Er kannte den Uhrmacher an der Ecke der Stortingsgata, sie waren mal in die gleiche Klasse gegangen. Vielleicht sollte er …?
Er rappelte sich auf.
Kine stand neben ihrem Einkaufswagen und rauchte eine Zigarette. Aber als die Ampel grün wurde und die anderen losliefen, blieb sie stehen. Sie hatte es sich anders überlegt. Sie wollte heute nicht über die Straße gehen. Also blieb sie stehen und rauchte ihre Zigarette zu Ende. Den Einkaufswagen hatte sie vor langer Zeit bei Ikea gestohlen. Sie hatte ihn auf dem Parkplatz einfach in den Lieferwagen geschoben und ihn wie das Hemnes-Bett, den Hemnes-Couchtisch und das Billy-Regal mit nach Hause genommen. Wo sie ihre Zukunft vermutet hatte. Ihre gemeinsame Zukunft. Er hatte die Möbel zusammengebaut, und dann hatten sie sich beide einen Schuss gesetzt. Er war inzwischen tot, sie nicht. Sie hing nicht einmal mehr an der Nadel. Und sie würde klarkommen, auch wenn sie schon lange nicht mehr in dem Hemnes-Bett geschlafen hatte. Sie drückte die Zigarette aus, packte wieder den Griff des Ikea-Wagens und bemerkte, dass irgendjemand eine Plastiktüte oben auf die dreckige Wolldecke gelegt hatte, mit der sie ihr Hab und Gut schützte. Ärgerlich griff sie nach der Tüte, es war nicht das erste Mal, dass irgendwelche Leute die Ansammlung ihrer irdischen Güter für Müll hielten. Sie drehte sich um, sie wusste, dass da eine Mülltonne war, schließlich kannte sie die alle, zögerte dann aber. Die Tüte war schwer. Sie öffnete sie, schob die Hand hinein und hielt den Inhalt in die Nachmittagssonne. Es glitzerte und blinkte. Schmuck. Halsketten und ein Ring. Die Ketten hatten Diamantanhänger, und der Ring war aus Gold. Echtes Gold und echte Diamanten. Kine war sich beinahe sicher, sie wusste, wie Gold und Diamanten aussahen, hatte so was schon mal in der Hand gehabt. Schließlich hatte sie ja nicht immer auf der Straße gelebt.