Er trank einen Schluck Kaffee und beobachtete, wie die anderen sich unablässig umsahen. Es war immer das Gleiche; Paranoia und Jagd, ihre Köpfe zuckten hin und her wie bei Tieren an einer Wasserstelle in der Savanne, an der abwechselnd Raub- und Beutetiere tranken. Abgesehen von diesem Neuen. Er hatte bis gerade eben vollkommen ruhig ausgesehen. Johnny folgte seinem Blick zur Tür hinter der Caféküche, wo Martha aus dem Personalraum kam. Sie hatte ihren Anorak an und schien auf dem Weg nach Hause zu sein. Johnny sah, wie sich die Pupillen des Mannes weiteten, denn dafür hatte man als Drogensüchtiger einen ganz besonderen Blick. Ist er Junkie, ist er high, ist er gefährlich? Wie auch für die Hände der anderen. Hände konnten einen bestehlen, Hände konnten Messer halten. Oder in bedrohlichen Situationen gerade die Stellen beschützen, an denen man seinen Stoff oder sein Geld versteckte. Die Hände des Mannes waren in den Hosentaschen verschwunden, in denen auch die Ohrringe waren. Johnny war nicht dumm. Vielleicht schon, aber in gewissen Dingen eben auch nicht. Martha kam herein, und auch ihre Pupillen weiteten sich. Ohrringe. Stuhlbeine kratzten über den Boden, als der junge Mann aufstand, den Blick nervös glänzend auf sie gerichtet.
Johnny räusperte sich. »Stig …«
Aber es war zu spät. Er hatte Johnny bereits den Rücken zugedreht und ging auf sie zu.
Im selben Moment öffnete sich die kleine Eingangstür zur Straße und herein kam ein Mann, dem man gleich ansah, dass er nicht hierhergehörte. Kurze schwarze Lederjacke, kurze dunkle Haare. Breite Schultern, fokussierter Blick. Ärgerlich schob er einen Bewohner zur Seite, der ihm erstarrt in einer typischen Junkiepose im Weg stand. Er machte Martha ein Zeichen, die sogleich reagierte. Johnny bemerkte, dass auch dem Jungen diese Geste nicht entgangen war. Er blieb stehen, verlor irgendwie den Wind aus den Segeln, während Martha zur Tür ging. Der Mann an der Tür steckte die Hand in die Tasche seiner Lederjacke und stellte den Ellbogen etwas zur Seite aus, damit sie sich einhaken konnte. Was sie auch tat. Eine Gewohnheit, typisch für Leute, die schon lange zusammen waren. Dann verschwanden sie in die plötzlich kalte Abendluft, es war windig geworden.
Der junge Mann blieb mitten im Raum stehen, verwirrt, als bräuchte er Zeit, die Information zu verarbeiten. Johnny sah, wie sich dem Neuen auch die Köpfe der anderen zuwandten. Sie musterten ihn, und Johnny sah, was sie dachten.
Beutetier.
Johnny wachte auf, jemand weinte.
Einen Augenblick lang dachte er an den Geist. An das Kind. Dass es im Zimmer war.
Doch dann realisierte er, dass das Geräusch von oben kam. Er drehte sich auf die Seite. Das Bettgestell begann zu zittern, und aus dem Weinen wurde Schluchzen.
Johnny stand auf, stellte sich vor das obere Bett und legte dem jungen Mann, der wie Espenlaub zitterte, eine Hand auf die Schulter. Dann schaltete er die Leselampe über dem Bett ein. Das Erste, was er sah, waren Zähne, die ins Kissen bissen.
»Es tut weh?« Johnny meinte das eher als Feststellung denn als Frage.
Ein leichenblasses, verschwitztes Gesicht mit eingesunkenen Augen starrte ihn an.
»Heroin?«, fragte Johnny.
Das Gesicht nickte.
»Soll ich versuchen, was zu besorgen?«
Kopfschütteln.
»Du weißt, dass du im falschen Hospiz wohnst, wenn du aufhören willst?«, fragte Johnny.
Nicken.
»Also, was kann ich für dich tun?«
Der Junge benetzte seine Lippen mit einer zu weißen Zunge und flüsterte etwas.
»Hä?« Johnny beugte sich vor. Roch den schweren, muffigen Atem des anderen. Es gelang ihm nur mit Mühe, die Worte zu erkennen. Dann richtete er sich auf und nickte.
»Wenn du willst.«
Johnny legte sich wieder hin und starrte an die Unterseite des Bettes über sich. Die Matratze war mit Plastik bezogen, damit sie von den Körpersäften der Bewohner nicht zerstört werden konnte. Er lauschte den Geräuschen des Hospizes, der ewigen Jagd. Den Schritten im Lauftempo auf dem Flur, dem Fluchen, der dröhnenden Musik, dem Gelächter und Klopfen, den verzweifelten Schreien und dem hitzigen Handel, der gerade direkt vor ihrer Zimmertür vonstattenging. Aber nichts davon übertönte das leise Weinen und die Worte, die der junge Mann geflüstert hatte.
»Halt mich auf, wenn ich rauswill.«
Kapitel 19
»So, so, du bist jetzt also beim Morddezernat«, sagte Fredrik und lächelte hinter seiner Sonnenbrille. Der Schriftzug am Gestell war so klein, dass man schon Simons Falkenblick brauchte, um ihn zu erkennen. Und ein größeres Markenwissen, als Simon es hatte, um einschätzen zu können, wie exklusiv sie war. Aber aus Fredriks Hemd, seiner Krawatte, den manikürten Fingernägeln und dem neuen Haarschnitt schloss er, dass wohl auch die Brille teuer gewesen war. Aber trug man jetzt wirklich braune Schuhe zu hellgrauen Anzügen?
»Ja«, sagte Simon blinzelnd. Er hatte sich in den Wind gesetzt, die Sonne im Rücken, aber das Licht wurde von der neuen Glasfassade auf der anderen Seite des Kanals reflektiert. Simon hatte Fredrik zum Mittagessen eingeladen, aber die Idee, in das japanische Restaurant in Tjuvholmen im Zentrum des Finanzviertels zu gehen, war nicht seine gewesen.
»Und du verwaltest jetzt das Geld von Leuten, die so reich sind, dass sie keine Lust mehr haben, sich selbst darum zu kümmern?«
Fredrik lachte. »So in etwa, ja.«
Der Kellner hatte ihnen beiden einen kleinen Teller mit etwas Quallenartigem gebracht. Simon fragte sich, ob dieses Ding wirklich eine kleine Qualle war. In Tjuvholmen war Sushi wohl so normal wie andernorts eine Pizza.
»Und, vermisst du auch das Wirtschaftsdezernat?« Simon trank einen Schluck Wasser. Angeblich Gletscherwasser, das in Voss abgefüllt und in die USA exportiert worden war, um es von dort wieder zurück nach Norwegen zu importieren. Gereinigt von all den wichtigen Mineralien, die der Körper brauchte, und die man in dem ebenso sauberen wie wohlschmeckenden Wasser fand, das aus jedem Wasserhahn kam. Sechzig Kronen die Flasche. Simon hatte jeden Versuch aufgegeben, den Markt zu verstehen. Oder die Psychologie dahinter und das Machtspiel. Fredrik war da ganz anders. Er verstand all das und mischte eifrig mit. Wohl schon immer, fürchtete Simon. Er war wie Kari zu gut ausgebildet, zu ehrgeizig und wusste zu gut, was zu seinem Besten war, als dass sie ihn hätten halten können.
»Manchmal vermisse ich die Kollegen und die Aufregung.« Fredrik log. »Aber nicht die Schwerfälligkeit und Bürokratie. Wahrscheinlich hast du auch deshalb aufgehört, oder?«
Er führte sein Glas so schnell an den Mund, dass Simon sein Gesicht nicht lesen konnte. Wusste er wirklich nichts, oder tat er nur so? Der ganze Ärger hatte ja gleich nach Fredriks Wechsel auf die andere Seite angefangen. Auf die Seite des Feindes, wie viele dachten. Dabei hatte auch Fredrik an dem Fall gearbeitet. Andererseits war es durchaus möglich, dass er gar keine Verbindung mehr zur Polizei hatte.
»In etwa«, sagte Simon.
»Mord ist eine viel klarere Nummer, da geht es gleich zur Sache.« Fredrik sah diskret auf seine Uhr.
»Apropos gleich zur Sache«, sagte Simon. »Ich wollte mit dir reden, wegen eines Kredits. Meine Frau braucht eine Augenoperation. Else, du erinnerst dich?«
Fredrik kaute auf der Qualle herum und machte ein Geräusch, das ebenso gut »ja« wie »nein« bedeuten konnte.
Simon wartete.
»Tut mir leid, Simon, wir investieren das Geld unserer Kunden nur in Eigenkapital über die entsprechenden Gesellschafter oder in staatlich gesicherte Obligationen, nie in Kredite auf dem privaten Markt.«
»Das weiß ich. Ich bin zu dir gekommen, weil ich nicht die üblichen Sicherheiten habe.«