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Fredrik wischte sich vorsichtig die Mundwinkel ab und legte die Serviette auf den Teller. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann. Eine Augenoperation, sagst du? Hört sich ernst an.«

Der Kellner kam, nahm Fredriks Teller und sah Simon fragend an, der sein Essen nicht angerührt hatte. Simon gab ihm zu verstehen, dass er den Teller mitnehmen konnte.

»Hat’s dir nicht geschmeckt?«, fragte Fredrik und bat mit ein paar Worten, die möglicherweise Japanisch waren, um die Rechnung.

»Weiß nicht, aber was Wirbellose angeht, bin ich generell skeptisch. Die rutschen zu leicht runter, wenn du verstehst, was ich meine. Ich mag es eigentlich nicht, Essen wegzuwerfen, aber dieses Tier sah noch verdammt lebendig aus. Vielleicht kommt es ja wieder ins Aquarium.«

Fredrik lachte unnötig laut über Simons Witz. Vielleicht war er erleichtert, weil der andere Teil des Gesprächs damit beendet war. Als die Rechnung kam, griff er sofort zu.

»Lass mich das machen …«, begann Simon, aber Fredrik hatte seine Kreditkarte bereits in das Lesegerät gesteckt, das der Kellner mitgebracht hatte, und tippte los.

»Nett, dass wir uns mal wieder getroffen haben, nur schade, dass ich nicht helfen konnte«, sagte Fredrik, als der Kellner verschwand. Simon ahnte, dass Fredrik schon gar nicht mehr richtig auf seinem Stuhl saß.

»Hast du das gestern vom Iversen-Mord gehört?«

»Oh, ja, mein Gott!« Fredrik schüttelte den Kopf, nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. »Iver Iversen ist Kunde bei uns. Eine Tragödie.«

»Ja, der war doch schon damals, als du noch im Wirtschafts­dezernat warst, dein Kunde.«

»Was?«

»Dein Verdächtiger, meine ich. Schade, dass immer alle auf­hören, die wirklich was draufhaben. Mit euch im Team hätten wir vielleicht auch noch die letzte Runde für uns entschieden. Die Immobilienbranche bräuchte wirklich mal einen richtigen Frühjahrsputz. Damals waren wir uns da eigentlich ziemlich einig, weißt du noch, Fredrik?«

Fredrik setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Es ist immer ein riskantes Spiel, wenn man sich so hohe Ziele setzt wie du, Simon.«

Simon nickte. Dann wusste Fredrik also, warum Simon die Abteilung verlassen hatte. »Apropos Spiel«, sagte Simon. »Ich bin ja bloß ein Polizist ohne eine irgendwie geartete Wirtschaftsausbildung, aber bei den Bilanzen von Iversen habe ich mich schon immer gefragt, wie die überhaupt überleben konnten. Ihre Immobilienan- und verkäufe waren so schlecht, dass sie fast immer rote Zahlen geschrieben haben. Verdammt große Summen.«

»Ja, aber die Verwaltung und Bewirtschaftung der Immobilien lief dafür umso besser.«

»Dank der Abschreibungen. Die Verluste aus den Verkäufen sorgten ja dafür, dass Iversen für die Betriebsgewinne zum Schluss kaum noch Steuern gezahlt hat.«

»Oh, hört sich beinahe an, als wärst du zurück im Wirtschaftsdezernat?«

»Mein Passwort ist noch nicht gelöscht, ich habe immer noch Zugang zu den alten Files. Gestern Abend habe ich ziemlich lange am PC gesessen.«

»Nun ja. Aber ungesetzlich ist das nicht, das entspricht unserem Steuerrecht.«

»Ja«, sagte Simon, stützte sein Kinn in die Hand und schaute in den blauen Mittagshimmel. »Du musst es ja wissen, schließlich hast du damals die Iversen-Dokumente überprüft. Vielleicht hat ja ein wütender Steuerzahler Frau Iversen ermordet.«

»Was?«

Simon lachte kurz und stand auf. »Ach, nur die Gedanken eines alten Mannes. Danke fürs Essen.«

»Simon?«

»Ja.«

»Sei nicht zu optimistisch, aber ich höre mich mal um, was diesen Kredit angeht.«

»Das weiß ich wirklich zu schätzen«, sagte Simon und knöpfte seine Jacke zu. »Mach’s gut.«

Er brauchte sich nicht umzudrehen, er wusste, dass Fredrik ihm sehr nachdenklich nachsah, als er ging.

Lars Gilberg legte die Zeitung weg, die er im Mülleimer vor dem 7-Eleven gefunden hatte und die sein nächtliches Kopfkissen werden sollte. Seitenweise ging es um den Mord an dieser stinkreichen Nobeltussi. Wenn einer der Armen an einer Überdosis starb, weil wieder mal einer hier unten am Fluss oder in der Skippergata vergiftetes Dope verkauft hatte, kümmerte sich kein Schwein darum. Ein junger Ermittler des Kriminalamts, Bjørnstad hieß er, hatte sogar gesagt, dass alle zur Verfügung stehenden Ressourcen genutzt werden sollten. Ach ja? Warum nicht erst den Massenmörder finden, der hier unten Arsen und Rattengift in seine Drogen mischte? Gilberg blinzelte. Die Gestalt jenseits seines Schattenreiches hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen und sah wie ein Jogger aus, dessen Trainingsroute hier unten am Fluss entlangführte. Aber der Mann war langsamer geworden, als er ihn entdeckt hatte. Gilberg ging davon aus, dass er ein Drogenfahnder war oder irgendein Yuppie, der dringend Speed brauchte. Erst als er unter der Brücke angekommen war und die Kapuze vom Kopf zog, erkannte Gilberg den jungen Mann. Er war verschwitzt und außer Atem.

Gilberg erhob sich rasch von seiner Unterlage. Er war froh, ihn zu sehen.

»Hey. Ich hab aufgepasst«, sagte er. »Deine Sachen liegen noch immer da.« Er nickte in Richtung der Büsche.

»Danke«, sagte der junge Mann, hockte sich hin und maß seinen eigenen Puls. »Ich wollte dich aber was anderes fragen. Vielleicht kannst du mir helfen?«

»Klar, Mann, wobei denn?«

»Danke. Wer von den Dealern hier unten verkauft Superboy?«

Lars Gilberg schloss die Augen. Verflucht. »Nimm nicht das, Junge! Nicht Superboy!«

»Warum nicht?«

»Weil ich dir gleich drei Leute nennen kann, die in diesem Sommer an dem Zeug gestorben sind.«

»Wer hat die reinste Ware?«

»Davon habe ich keine Ahnung, ich nehm das Zeug ja nicht. Aber was soll’s, das Zeug verkauft eh nur einer in der Stadt. Genauer gesagt, zwei, aber die sind immer zusammen. Einer mit dem Dope, der andere mit dem Geld. Sie stehen unter der Ny­brua.«

»Wie sehen sie aus?«

»Die wechseln sich ab, aber in der Regel ist der Geldmann der kleine untersetzte Kerl mit den kurzen Haaren und den Pockennarben. Das ist der Chef, aber er ist gern selbst auf der Straße und kümmert sich um das Geld. Er ist verdammt misstrauisch und verlässt sich nicht einmal auf seine eigenen Dealer.«

»Klein und mit Pockennarben?«

»Ja, am besten erkennt man ihn aber an seinen Augenlidern. Die hängen immer irgendwie auf Halbmast, er sieht ständig müde aus. Kannst du dir ein Bild machen?«

»Du meinst doch nicht etwa Kalle?«

»Du kennst den?«

Der junge Mann nickte langsam.

»Dann weißt du auch, warum der so Augenlider hat?«

»Kennst du die Öffnungszeiten?«, fragte der Mann.

»Die stehen da etwa von vier bis neun. Ihre ersten Kunden kommen gut eine halbe Stunde vorher hier vorbei. Und die letzten rennen kurz vor neun hier runter. So verzweifelt und scharf auf das Zeug, dass ihre Blicke fast den Weg beleuchten.«

Der junge Mann setzte die Kapuze wieder auf. »Danke, Kumpel.«

»Lars. Mein Name ist Lars.«

»Danke, Lars. Brauchst du was? Geld?«

Lars brauchte immer Geld. Er schüttelte den Kopf. »Wie heißt du?«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, wen interessiert’s schon? Dann rannte er weiter.

Martha saß an der Rezeption, als er die Treppe hochkam und an ihr vorbeilief.

»Stig!«, rief sie.

Es dauerte einen Augenblick zu lange, bis er reagierte. Natürlich konnte das an der generell verminderten Reaktionsfähigkeit liegen. Oder daran, dass er gar nicht Stig hieß. Er war verschwitzt, und es sah so aus, als wäre er joggen gewesen. Wenn er nur nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte, dachte sie.

»Ich habe etwas für dich«, sagte sie. »Warte!«

Sie nahm den Karton, rief Maria zu, dass es nur ein paar Minuten dauern würde, und ging rasch zu ihm. Mit einem leichten Druck auf seinen Ellenbogen sagte sie: »Komm, gehen wir zu dir und Johnny nach oben.«

Als sie in den Raum kamen, war der Anblick ungewohnt. Die Gardinen waren zur Seite gezogen, und der Raum badete im Licht. Johnny war nicht da, und die Luft war frisch, da die Fenster so weit geöffnet waren, wie es der Sicherheitsriegel zuließ. Auf Kosten der Gemeinde waren alle Fenster gesichert worden, da es immer wieder vorgekommen war, dass Passanten nur um ein Haar von größeren Gegenständen verfehlt worden waren, die aus den Fenstern geworfen wurden, darunter Radios, Lautsprecher, Stereoanlagen und Fernseher. Elektrische Geräte waren fast schon an der Tagesordnung gewesen, aber den Ausschlag hatte etwas anderes gegeben. Bei der weitverbreiteten Sozial­angst war es logisch, dass sich einige Bewohner weigerten, die Gemeinschaftstoiletten zu benutzen. Manchen wurde ein Eimer auf dem Zimmer erlaubt, den sie selbst in regelmäßigen Abständen leeren sollten, was sie zum Leidwesen aller nicht unbedingt taten. Einer hatte seinen Eimer auf das Fensterbrett gestellt, ­damit der schlimmste Gestank nach draußen zog. Als dann jemand das Zimmer betreten hatte, war der Eimer durch den Luftzug umgekippt. Die neue Konditorei wurde gerade hergerichtet, und das Schicksal wollte es, dass ein Anstreicher unmittelbar unter dem Fenster auf einer Leiter stand. Er hatte den Vorfall ohne bleibende körperliche Schäden überstanden, aber Martha – die als Erste vor Ort gewesen und dem Handwerker zu Hilfe geeilt war – wusste, dass so etwas Narben hinterlassen konnte.