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»Setz dich«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl. »Und zieh die Schuhe aus.«

Er tat, was sie verlangte, und sie öffnete den Karton.

»Ich wollte nicht, dass die anderen das sehen«, sagte sie und holte ein Paar Schuhe aus weichem schwarzem Leder heraus.

»Die sind von meinem Vater«, sagte sie. »Ihr solltet ungefähr die gleiche Schuhgröße haben.«

Sie reichte ihm die Schuhe.

Er war so vollkommen perplex, dass sie rot wurde.

»Wir können dich doch nicht in Joggingschuhen zu einem Vorstellungsgespräch schicken«, sagte sie schnell.

Sie sah sich im Zimmer um, während er die Schuhe anprobierte. Sie war sich nicht sicher, aber roch es nicht nach Neutralseife? Dabei war hier offiziell gar nicht geputzt worden. Jedenfalls nicht an diesem Tag. Dann trat sie vor die Fotografie, die mit Reißnägeln an die Wand geheftet war.

»Wer ist das?«

»Mein Vater«, sagte er.

»Wirklich, ein Polizist?«

»Ja. So.«

Sie drehte sich zu ihm um. Er war aufgestanden und trat auf der Stelle.

»Und?«

»Die passen perfekt.« Er lächelte. »Vielen, vielen Dank, Martha.«

Sie zuckte zusammen, als er ihren Namen sagte. Nicht, dass sie es nicht gewohnt war, ihn zu hören. Die Bewohner sprachen sie immer mit dem Vornamen an. Nachnamen, Privatadressen und die Namen anderer Familienmitglieder waren vertraulich, schließlich waren sie täglich Zeuge irgendwelcher Drogengeschäfte. Es war eher die Art, wie er ihren Namen gesagt hatte. Wie eine Berührung. Vorsichtig, unschuldig, aber doch spürbar. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es unpassend war, allein mit ihm in diesem Raum zu sein. Sie war davon ausgegangen, dass auch Johnny anwesend sein würde. Sie fragte sich nicht, wo Johnny sein konnte, war er nicht im Bett, konnte er nur auf der Jagd nach Drogen, auf dem Klo oder beim Essen sein. In dieser Reihenfolge. Trotzdem ging sie nicht gleich.

»Nach was für einem Job siehst du dich denn um?« Sie klang etwas kurzatmig.

»Nach etwas im Gerichtswesen«, sagte er ernst, und dieser Ernst gefiel ihr gut. Er wirkte fast etwas altklug.

»Also wie dein Vater?«

»Nein, Polizisten arbeiten für die Exekutive, die ausführende Macht. Ich will für die Judikative arbeiten.«

Sie lächelte. Wie anders er aussah, ja, wie sehr er sich von allen, die sie kannte, unterschied. Besonders von Anders. Während der immer alles unter Kontrolle hatte, wirkte dieser Junge offen und verletzlich. Und während Anders misstrauisch und abweisend war, wenn er jemanden nicht kannte, strahlte Stig etwas Positives, Nettes, ja fast Naives aus.

»Ich muss jetzt gehen.«

»Ja«, sagte er und lehnte sich an die Wand. Er hatte den Reißverschluss seines Kapuzenpullis aufgezogen. Das T-Shirt darunter war schweißnass und klebte an seinem Körper.

Er wollte etwas sagen, aber im selben Moment knackte ihr Walkie-Talkie.

Sie hielt es sich ans Ohr.

Besuch für sie.

»Was wolltest du sagen?«, fragte sie, nachdem sie kurz geantwortet hatte.

»Das kann warten«, sagte er und lächelte.

Es war wieder der ältere Polizist.

Er stand an der Rezeption und wartete auf sie.

»Ihre Kollegin hat mich hereingelassen«, sagte er entschuldigend.

Martha sah Maria vorwurfsvoll an, aber ihre Kollegin breitete nur vage die Arme aus: What’s the big deal?

»Gibt es hier einen Ort, an dem wir …?«

Martha nahm ihn mit in den Besprechungsraum, bot ihm aber diesmal keinen Kaffee an.

»Sehen Sie das hier?«, fragte er und hielt ihr sein Handy hin.

»Ein Foto von … Erde?«

»Ein Fußabdruck. Vermutlich sagt Ihnen das nicht viel, ich habe mich aber gefragt, warum mir dieser Abdruck so bekannt vorkommt. Und irgendwann bin ich dann darauf gekommen, dass ich den schon an verdammt vielen möglichen Tatorten gesehen habe. Sie wissen, Orte, an denen man Tote findet. Typisch sind Containerlager mit Spuren im Schnee, Drogenlager, ein Dealer irgendwo in einem Hinterhof, ein deutscher Bunker, in dem geschossen wird. Kurz gesagt …«

»Kurz gesagt, Orte, an denen die gleichen Leute verkehren wie hier«, sagte Martha mit einem Seufzen.

»Genau, in der Regel ist der Tod selbstverschuldet. Wir stoßen immer wieder auf Abdrücke der blauen Joggingschuhe aus dem Fundus des Militärs, die über die Heilsarmee und die Stadtmission verteilt wurden und landesweit zum gängigen Schuhwerk von Obdachlosen und Drogenabhängigen geworden sind. Als Spuren sind diese Abdrücke ziemlich unbrauchbar, weil es einfach zu viele von diesen Schuhen an den Füßen bereits vorbestrafter Menschen gibt.«

»Auf was wollen Sie hinaus, Kommissar Kefas?«

»Die Schuhe werden nicht mehr produziert, und die, die jetzt noch getragen werden, sind in der Regel ziemlich abgelaufen. Aber wenn Sie sich dieses Bild genau ansehen, werden Sie erkennen, dass sich das Profil ziemlich scharf abzeichnet, wie bei neuen Schuhen. Ich habe mich bei der Heilsarmee erkundigt, und die haben mir gesagt, dass sie die letzte Partie dieser Schuhe im März letzten Jahres an Sie abgetreten haben. Meine Frage ist deshalb ganz einfach. Haben Sie seit dem letzten Frühjahr Schuhe dieses Typs ausgegeben. Größe 43?«

»Die Antwort lautet: Ja, natürlich.«

»An wen …?«

»An viele.«

»Größe …?«

»Größe 43 ist die durchschnittliche Schuhgröße von Männern in der westlichen Welt, und das gilt in überraschender Weise auch für Drogenabhängige. Mehr kann und will ich nicht sagen.« Martha sah ihn mit zusammengepressten Lippen an.

Der Polizist seufzte. »Ich respektiere die Solidarität mit Ihren Bewohnern. Aber es geht in diesem Fall nicht um ein Gramm Speed, sondern um einen Mordfall. Ich habe diesen Schuhabdruck da gefunden, wo gestern die Frau am Holmenkollen erschossen worden ist. Agnete Iversen.«

»Iversen?« Martha wurde mit einem Mal wieder kurzatmig. Seltsam. Aber der Psychologe, der die Diagnose compassion ­fatigue gestellt hatte, hatte sie gebeten, auf Stresssymptome zu achten.

Kommissar Kefas neigte den Kopf leicht zur Seite. »Iversen, ja. Sie haben bestimmt die Schlagzeilen gesehen. Erschossen auf der Treppe ihres eigenen Hauses …«

»Ja, ja, das habe ich mitbekommen. Aber ich lese so etwas nie, unser Job ist ja schon traurig genug, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Klar. Ihr Name war also Agnete Iversen. 49 Jahre. Früher beruflich aktiv, jetzt Hausfrau. Verheiratet, ein zwanzigjähriger Sohn. Vorsitzende des Wohlfahrtsvereins und eine großzügige Förderin des Norwegischen Fremdenverkehrsverbands. Der Ausdruck ›Stütze der Gesellschaft‹ trifft auf sie durchaus zu.«

Martha hustete. »Woher wollen Sie wissen, dass dieser Abdruck tatsächlich vom Täter ist?«