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»Sicher sein können wir uns nicht. Aber wir haben einen Teilabdruck mit dem Blut des Opfers gefunden, der zu diesem passt.«

Martha hustete wieder. Sie sollte mal zum Arzt gehen.

»Und was, wenn ich mich an die Namen derjenigen erinnern würde, die solche Schuhe von uns bekommen haben? In Größe 43. Woher wollen Sie wissen, wer am Tatort war?«

»Auch das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, aber der Täter scheint in Blut getreten zu sein. Wenn das koaguliert ist, müsste davon noch etwas im Profil sein.«

»Verstehe«, sagte Martha.

Kommissar Kefas wartete.

Sie stand auf. »Ich fürchte, ich werde Ihnen keine große Hilfe sein. Aber ich frage mal meine Kollegen, ob die wissen, wer solche Schuhe in Größe 43 bekommen hat.«

Der Polizist blieb noch eine Weile sitzen, als wollte er ihr Gelegenheit geben, es sich doch noch anders zu überlegen und ihm mehr zu erzählen. Dann stand er auf und reichte ihr seine Visitenkarte.

»Danke, ich weiß das zu schätzen. Rufen Sie mich an. Rund um die Uhr.«

Nachdem der Polizist gegangen war, blieb Martha im Besprechungszimmer sitzen und biss sich auf die Unterlippe.

Was sie gesagt hatte, stimmte. Schuhgröße 43 war nicht selten.

»Schluss für heute«, sagte Kalle. Es war gleich neun Uhr, und die Sonne war hinter den Häusern am Flussufer verschwunden. Er nahm die letzten Hunderter entgegen und schob sie in den Geldgürtel, den er um den Bauch trug. Er hatte gehört, dass in St. Petersburg die Geldleute regelmäßig ausgeraubt wurden. Deshalb hatte sie die Mafia mit stählernen Geldgürteln ausgestattet, die vor dem Bauch verschweißt wurden. Die Gürtel hatten einen dünnen Schlitz, durch den man die Geldscheine schob, und ein ko­diertes Schloss, das nur der Mann im Backoffice öffnen konnte. Nur er kannte den Code. Die Geldleute konnten nicht einmal unter Folter etwas verraten und liefen auch nicht Gefahr, schwach zu werden und etwas zu stehlen. Ein Geldmann musste mit diesem verschweißten Gürtel schlafen, essen, scheißen und ficken, aber Kalle hatte trotzdem schon häufiger über diese Lösung nachgedacht. Er war es einfach leid, Abend für Abend hier draußen zu stehen.

»Bitte! Ich flehe dich an!« Wieder eine dieser ausgehungerten Junkiehuren. Nur Haut und Knochen, der reinste Holocaust-Style.

»Morgen«, sagte Kalle und wandte sich zum Gehen.

»Verdammt, ich brauche was!«

»Wir haben nichts mehr«, log er und machte Pelvis, dem Mann mit den Drogen, ein Zeichen zum Aufbruch.

Sie weinte. Kalle hatte kein Mitleid, sie mussten einfach lernen, dass um neun Schluss war und es keinen Sinn hatte, zehn Minuten später zu kommen. Natürlich konnte er auch zehn Minuten oder eine Viertelstunde länger verkaufen, an die, die das Geld nicht schnell genug aufgetrieben hatten. Aber auf lange Sicht war es eine Frage der Lebensqualität zu wissen, wann man nach Hause kam. Und weniger verdiente er dadurch auch nicht, schließlich hatten sie das Monopol auf Superboy. Am nächsten Tag würden sie wieder da sein, kaum dass der Laden geöffnet hatte.

Sie packte seinen Arm, aber Kalle stieß sie weg. Sie stolperte ins Gras und fiel auf die Knie.

»Guter Tag«, sagte Pelvis, während sie über den Uferweg davoneilten. »Was meinst du, wie viel?«

»Was meinst du?«, fragte Kalle ungeduldig. Diese Idioten konnten nicht mal die Anzahl der Tütchen mit dem Preis multiplizieren. Es war in dieser Branche echt schwierig, gute Leute zu finden.

Er drehte sich um, bevor sie über die Brücke gingen, und stellte sicher, dass ihnen niemand folgte. Eine Gewohnheit, das Ergebnis bitter bezahlter Erfahrungen. Wurde man als Drogendealer, die Taschen voller Geld, ausgeraubt, konnte man schließlich nicht zur Polizei gehen. Es war ihn teuer zu stehen gekommen, dass er es einmal an einem ruhigen Sommerabend am Fluss nicht geschafft hatte, die Augen offen zu halten, und auf einer Bank eingeschlafen war – mit Heroin für dreihunderttausend Kronen in der Tasche, das er für Nestor verkaufen sollte. Als er wieder wach wurde, war der Stoff natürlich weg. Nestor erklärte ihm tags darauf, dass der Chef so großzügig sei, ihm eine Wahl zu lassen. Beide Daumen, weil er ein Idiot war, oder beide Augenlider, weil er eingeschlafen war. Kalle entschied sich für die Augenlider. Zwei Anzugtypen, ein dunkelhaariger und ein blonder, hielten ihn fest, während Nestor seine Augenlider packte und mit seinem hässlich krummen Arabermesser abschnitt. Anschließend gab er Kalle – auch auf Weisung von oben – Geld für ein Taxi ins Krankenhaus. Die Chirurgen erklärten ihm, dass sie für neue Augenlider Haut an einer ganz bestimmten Stelle wegnehmen müssten und dass er deshalb von Glück reden könne, kein beschnittener Jude zu sein. Nur die Vorhaut habe nämlich die annähernd gleichen Eigenschaften wie die Augenlider. Die Operation verlief den Umständen entsprechend gut, und seither ­erzählte Kalle immer, er habe die Augenlider durch einen Säureunfall verloren und durch Haut von der Innenseite eines Schenkels ersetzen lassen. Vom Schenkel eines anderen Mannes, behauptete er, wenn eine Frau im Bett die Narbe sehen wollte. Und schob hinterher, dass er Vierteljude sei, wenn sie gar nicht mehr aufhörte zu fragen. Er lebte lange in dem Glauben, das Ganze sei ein gutgehütetes Geheimnis, bis ihn sein Nachfolger in einer Bar lauthals gefragt hatte, ob es nicht nach Schwanz roch, wenn er sich morgens die Augen rieb. Der Kerl und seine Freunde lachten brüllend, woraufhin Kalle seine Bierflasche am Tresen zerschlug und dem anderen ins Gesicht stieß, mehrmals, bis er sich sicher war, dass der Typ keine Augen mehr hatte, die er sich morgens reiben konnte.

Am nächsten Tag bot Nestor Kalle auf Anweisung des Chefs seinen alten Job an. Die Stelle sei nun ja wieder frei und seine Tatkraft habe ihn beeindruckt. Seit jenem Tag schloss Kalle seine Augen erst, wenn er sich ganz sicher war, alles unter Kontrolle zu haben. Aber alles, was er jetzt sah, war eine heulende Frau im Gras und ein Jogger mit Kapuzenpulli.

»Zweihundert Lappen?«, tippte Pelvis.

Idiot.

Nachdem sie fünfzehn Minuten durch Oslos östliches Zen­trum und die etwas zweifelhafteren, aber charakteristischen Straßen der Altstadt gegangen waren, traten sie durch das offene Tor eines verlassenen Fabrikareals. Das Zählen sollte nicht länger als eine Stunde dauern. Außer ihnen waren nur noch Enok und Syff da, die Speed am Elch und in der Tollbugata vertickt hatten. Danach mussten sie Stoff feinhacken, strecken und für den nächsten Tag neue Tütchen packen. Erst dann konnte er nach Hause zu Vera. Sie war in der letzten Zeit ziemlich störrisch gewesen, wohl weil nichts aus der Barcelona-Tour geworden war, die er ihr versprochen hatte. Aber im Frühjahr war einfach zu viel los gewesen. Als Ausgleich hatte er ihr versprochen, im August mit ihr nach Los Angeles zu fliegen, wegen seiner Vorstrafen hatte er aber keine Einreisebewilligung bekommen. Er wusste, dass Frauen wie Vera nicht viel Geduld hatten, schließlich hatten sie Alternativen. Er musste sie also verwöhnen und ihr Karotten vor die Nase und ihre mandelförmigen, gierigen Augen halten. So etwas kostete Energie und Zeit. Und Geld, weshalb er viel arbeiten musste. Eine verdammte Zwickmühle.

Sie überquerten einen offenen Platz mit ölfleckigem Kies und hohem Gras. Auf Steinen am Rand thronten seit Jahren zwei Lastwagen ohne Räder. Vor einem roten Ziegelgebäude sprangen sie auf eine Laderampe. Kalle gab den vierstelligen Code in das dafür vorgesehene Tastenfeld ein und öffnete die Tür, als es summte. Schlagzeug und Bass dröhnten ihnen entgegen. Die Gemeinde hatte das Erdgeschoss des zweistöckigen Fabrikgebäudes zu Probenräumen für junge Bands umfunktioniert. Sie selbst hatten unter dem Vorwand, ein Managementbüro zu betreiben, beinahe gratis ein paar Räume in der ersten Etage bekommen. Bis jetzt war bei ihnen noch nicht ein Gig bestellt worden, aber es stand ja auch nicht gut um die Kultur. Sie gingen über den Flur zum Aufzug, während die Eingangstür langsam von den steifen Federn zurück ins Schloss gezogen wurde. Durch den Lärm glaubte Kalle einen Moment lang das Knirschen des Kieses draußen zu vernehmen.