Sie sah Stig nach, als er den Flur runterging.
Dann wandte sie sich wieder Anders zu. Er hatte den Kopf zur Seite gelegt und sah sie mit dem bösen Blick an, den sie immer öfter ertragen musste. Eigentlich wollte sie ihn ignorieren, weil sie glaubte, dass er mit der Frustration über die fehlende Anerkennung seiner Arbeit zu tun hatte.
»Was zum Henker war das denn?«, fragte er.
Auch das Fluchen war neu.
»Was?«
»Ihr habt … richtiggehend … kommuniziert, oder? Was ist das für ein Kerl?«
Sie atmete aus. Fast erleichtert. Dieses Territorium war schon bekannter. Eifersucht. Die kannte sie seit ihrer Jugend und wusste damit umzugehen. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Anders, jetzt lass diesen Unsinn. Du kommst jetzt mit mir nach unten und holst deine Jacke, und dann fahren wir nach Hause. Ich will heute Abend nicht mehr streiten. Lass uns etwas Leckeres kochen.«
»Martha, ich …«
»Psst«, sagte sie, wusste aber, dass sie bereits gewonnen hatte. »Du kochst uns was Schönes, während ich dusche. Und morgen reden wir über die Hochzeit, einverstanden?«
Sie sah, dass er etwas einwenden wollte, legte ihm aber einen Finger auf die vollen Lippen, in die sie sich seinerzeit so verliebt hatte. Dann ließ sie den Finger nach unten gleiten und strich über die sorgsam gepflegten Bartstoppeln. Oder hatte sie sich in seine Eifersucht verliebt? Sie wusste es nicht mehr.
Als sie sich ins Auto setzten, war er wieder ruhig. Er hatte den BMW gegen ihren Willen gekauft und argumentiert, sie würde die Annehmlichkeiten des Wagens schon zu schätzen wissen, wenn sie lange Strecken fuhren. Und er war zuverlässig. Als der Wagen ansprang, sah sie ihn wieder. Er trat aus dem Eingang und ging schnell über die Straße nach Osten. Über der Schulter die rote Tasche.
Kapitel 20
Simon fuhr an den Fußballplätzen vorbei und bog in die Straße ein, in der sie wohnten. Die Nachbarn grillten wieder. Ihr lautes, sonnen- und biermariniertes Lachen unterstrich die sommerliche Stille des Viertels. In den meisten Häusern war es dunkel, und in der ganzen Straße stand nur ein Auto.
»Da wären wir«, sagte Simon und hielt vor ihrer Garage.
Er wusste nicht, warum er das sagte. Else konnte schließlich sehen, dass sie da waren.
»Und danke für den schönen Kinoabend«, sagte Else und legte ihre Hand über die seine, die noch auf dem Schaltknüppel lag, als hätte er sie nur nach Hause gebracht und wollte jetzt wieder fahren. Niemals, dachte Simon und lächelte sie an. Im Stillen fragte er sich, ob sie von dem Film viel mitbekommen hatte. Es war ihr Vorschlag gewesen, ins Kino zu gehen. Er hatte sie während des Films mehrmals angesehen, sie hatte an den richtigen Stellen gelacht. Wenigstens das. Aber Woody Allens Humor transportierte sich ja auch mehr über die Dialoge als über Slapstick. Ja, sie hatten einen schönen Abend gehabt. Einen mehr.
»Ich glaube aber, du vermisst Mia Farrow«, sagte sie schelmisch.
Er lachte. Das war ihr Standardwitz. Der erste Film, in den er sie mitgenommen hatte, war Rosemaries Baby gewesen, Polanskis abstoßend genialer Film mit Mia Farrow, die ein Kind auf die Welt bringt, das sich als der Sohn des Teufels entpuppt. Else war noch lange danach verstört gewesen und hatte vermutet, er hätte ihr auf diese Weise sagen wollen, dass er gegen Kinder war. Ein Gefühl, das sich noch verstärkt hatte, nachdem er den Film ein zweites Mal hatte sehen wollen. Erst später – nach dem vierten Allen-Film mit Mia Farrow – hatte sie verstanden, dass ihn Mia Farrow und nicht der Sohn des Teufels verzaubert hatte.
Als sie vom Auto zur Haustür gingen, blitzte Licht auf der Straße auf. Kurz, wie von einem Leuchtturm. Jemand hatte in dem geparkten Wagen die Lichthupe betätigt.
»Was ist das?«, fragte Else.
»Keine Ahnung«, sagte Simon und schloss die Tür auf. »Machst du schon mal Kaffee, ich komme gleich.«
Simon ließ sie stehen und ging zur Straße. Schon als sie gekommen waren, hatte er das Auto bemerkt, das nicht in ihre Straße gehörte. Und auch in keine der angrenzenden Nebenstraßen. Limousinen fuhren in Oslo fast nur Botschafter, Mitglieder des Königshauses oder die Regierung. Er kannte nur noch einen anderen, der mit getönten Scheiben durch die Stadt kutschierte und seinen eigenen Chauffeur hatte. Gerade war er ausgestiegen und hatte Simon die Tür geöffnet.
Simon beugte sich hinunter, blieb aber draußen stehen. Der kleine Mann im Innenraum hatte eine spitze Nase und ein rundes Gesicht mit roten Bäckchen, das auf den ersten Blick angenehm wirkte. Der blaue Blazer mit den goldenen Knöpfen – eine Art Lieblingsmontur von Finanzleuten, Reedern und Schlagersängern der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts – hatte Simon immer dazu veranlasst, sich zu fragen, ob sich die norwegischen Männer tief in ihrem Innern nicht doch wünschten, Schifffahrtskapitän zu sein.
»Guten Abend, Hauptkommissar Kefas«, sagte der Kleine mit heller, munterer Stimme.
»Was tun Sie in meiner Straße, Nestor? Ich glaube, Ihr Zeug ist hier nicht sonderlich gefragt.«
»Oh, oh, noch immer der alte Polizeikrieger?«
»Geben Sie mir einen Grund, Sie festzunehmen, und ich tue es.«
»Wenn es nicht gegen das Gesetz verstößt, Menschen aus Notlagen zu helfen, wird das kaum notwendig sein. Steigen Sie doch kurz ein, damit wir in Ruhe reden können, Kefas.«
»Ich sehe nicht, wofür das gut sein sollte.«
»Sehen Sie auch schlecht?«
Simon starrte Nestor an. Kurze Arme an einem kleinen, dicken Körper. Aber die Ärmel des Blazers waren trotzdem so geschnitten, dass die goldenen Manschettenknöpfe, die ein S und ein N formten, zur Geltung kamen. Er gab vor, Ukrainer zu sein, aber laut der Akte, die sie über Hugo Nestor hatten, war er in Florø in Norwegen geboren und aufgewachsen. Er kam aus einer Fischerfamilie, die Hansen geheißen hatte, bis er den Namen geändert hatte. Er war nie länger im Ausland gewesen, mal abgesehen von dem früh abgebrochenen Wirtschaftsstudium im schwedischen Lund. Woher er seinen merkwürdigen Akzent hatte, wussten die Götter, aber Ukrainisch war es nicht.
»Ich frage mich, ob Ihre junge Frau weiß, wer welche Rollen gespielt hat, Kefas. Aber dass Allen selbst nicht mitgespielt hat, hat sie wohl mitbekommen, oder? Dieser Jude hat ja so eine unangenehm kläffende Stimme. Nicht, dass ich etwas gegen Juden hätte, wenn sie einzeln auftreten, aber was die Rasse angeht, hatte Hitler schon recht. Das gilt übrigens auch für die Slawen. Obwohl ich selbst Ostslawe bin, stimme ich ihm durchaus zu, dass Slawen nicht dazu in der Lage sind, sich selbst anzuführen. Dieser Allen, ist der nicht auch pädophil?«
In der Akte stand auch, dass Hugo Nestor der wichtigste Akteur des norwegischen Drogen- und Traffickingmarkts war. Trotzdem war er nie verurteilt, nie angeklagt, nie verdächtigt worden. Dieser Aal war zu klug und vorsichtig.
»Das weiß ich nicht, Nestor. Wohl aber, dass es Gerüchte gibt, dass es Ihre Laufburschen waren, die den Gefängnispastor umgebracht haben. Hat er Ihnen Geld geschuldet?«
Nestor lächelte nachsichtig. »Ist es nicht unter Ihrer Würde, Gerüchte zu streuen, Kefas? Sie hatten früher doch Stil, ganz anders als Ihre Kollegen. Hätten Sie mehr als Gerüchte, zum Beispiel einen glaubwürdigen Zeugen, der bereit ist, vor Gericht auszusagen, hätten Sie wohl jemanden verhaftet. Oder?«
Aal.
»Aber wie dem auch sei. Ich habe ein Angebot für Sie und Ihre Frau. Sie können schnell an Geld kommen. Genug Geld für eine teure Augenoperation, zum Beispiel.«
Simon schluckte. Seine Stimme klang heiser, als er antwortete: »Haben Sie das von Fredrik?«
»Ihr früherer Kollege im Wirtschaftsdezernat? Sagen wir einfach, dass ich gerüchteweise von Ihrer Notlage erfahren habe. Wenn Sie sich an ihn wenden, dann doch wohl, damit es auch meine Ohren erreicht. Oder etwa nicht, Kefas?« Er lächelte. »Sei’s drum. Ich biete Ihnen eine Lösung, von der ich glaube, dass sie gut für uns beide ist. Nun, wollen Sie nicht einsteigen?«