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Kalle wusste nicht, was für ein Griff das war, nur dass er wie in einem Schraubstock steckte und keinen Finger rühren konnte. Vergeblich versuchte er, sich loszureißen, hatte aber den Eindruck, am falschen Ende eines Knotens zu ziehen, er konnte sich gar nicht mehr rühren und sein Nacken und seine Arme schmerzten höllisch. Die Scherbe glitt aus seiner Hand. Das musste irgend so ein Kampfsporttrick sein. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Als die Türen sich öffneten, empfing sie das immer gleiche Bassgedröhne, und der Griff löste sich. Kalle riss den Mund auf und sog lautstark Luft ein. Die Pistole war wieder auf ihn gerichtet und zeigte ihm den Weg über den Flur.

Kalle wurde in einen der leeren Übungsräume dirigiert, und dort wurde ihm befohlen, sich auf den Boden zu setzen, mit dem Rücken an eine Heizung. Er saß einfach nur da und starrte auf eine Basstrommel mit dem Namenszug The Young Hopeless, während der Typ ihn mit einem langen schwarzen Kabel an die Heizung fesselte. Widerstand war zwecklos, und hätte der Typ ihn umbringen wollen, hätte er das längst erledigt. Und Geld und Drogen waren zu ersetzen. Natürlich müsste er selbst dafür aufkommen, aber im Augenblick beschäftigte ihn mehr, wie er Vera erklären sollte, dass auch dieses Jahr die fette Shoppingtour in irgendeine Metropole der Welt ausfallen würde. Der Typ hatte zwei Gitarrensaiten vom Boden aufgehoben und legte die dickere der beiden in Höhe der Nasenwurzel um seinen Kopf, die dünnere über dem Kinn. Anschließend verdrehte er sie offenbar hinter dem Heizungsrohr, denn Kalle spürte, wie sich die dünnere der Saiten in seine Haut grub und sein Zahnfleisch gegen den Unterkiefer drückte.

»Beweg deinen Kopf«, sagte der Typ. Er musste wegen der dröhnend lauten Musik, die über den Flur hereinschallte, fast schreien. Kalle versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen, aber die Saiten saßen zu stramm.

»Gut.«

Der Typ stellte den Ventilator auf den Hocker des Schlagzeugers, schaltete ihn ein und richtete den Luftstrom auf Kalles Gesicht. Kalle schloss die Augen und spürte bereits seinen Schweiß trocknen. Als er die Augen wieder öffnete, hatte der Mann einen Kilobeutel reines Superboy vor dem Ventilator auf den Stuhl gestellt und sich den Kapuzenpulli vor Nase und Mund gezogen. Was hatte er denn jetzt vor? Dann fiel Kalles Blick auf die läng­liche Glasscherbe.

Plötzlich legte sich eine eiskalte Hand um sein Herz.

Er wusste, was passieren würde.

Kalle riss sich zusammen, als der Typ mit der Spitze der Scherbe den Plastikbeutel aufschnitt. In der nächsten Sekunde war die Luft erfüllt von dem weißen Pulver. Kalle bekam es in die Augen, den Mund und die Nase. Er presste die Lippen zusammen. Musste aber husten und schloss den Mund wieder. Er schmeckte das bittere Pulver, das sich brennend auf seine Schleimhäute gelegt hatte, und wusste, dass die Wirkstoffe bereits auf dem Weg in sein Blut waren.

Das Bild von Pelle und seiner Frau hing zwischen Lenkrad und Tür am Armaturenbrett. Pelle fuhr mit dem Finger über die glatte, inzwischen etwas speckige Oberfläche. Er war wieder zurück an seinem Standplatz in Gamlebyen, aber die Aussichten waren schlecht, denn es war Sommer, und die Fahrten, die auf dem Bildschirm auftauchten, waren für ihn außer Reichweite. Aber es gab Hoffnung, denn weiter vorne kam jemand aus dem alten Fabrikgebäude. Der Mann bewegte sich so, als hätte er es eilig, ja, als hielte er nach der erstbesten Taxe Ausschau. Doch dann stoppte er plötzlich, beugte sich zur Hauswand vor und drückte den Rücken durch. Da er direkt unter einer Laterne stand, konnte Pelle sehen, wie sein Mageninhalt auf den Asphalt klatschte. Nee, so einen wollte er nicht in seinem Auto haben. Der Mann blieb nach vorn gebeugt stehen und spuckte aus. Pelle kannte das und hatte schon allein vom Zusehen Gallengeschmack auf der Zunge. Dann wischte der Mann sich den Mund mit dem Ärmel seines Kapuzenpullis ab, richtete sich auf, schob den Griff seiner Tasche auf der Schulter hoch und kam auf Pelle zu. Erst als er unmittelbar vor dem Taxi stand, merkte Pelle, dass es derselbe Mann war, den er gerade erst gefahren hatte. Dem das Geld für die Fahrt bis zum Hospiz gefehlt hatte. Er machte Pelle ein Zeichen, dass er einsteigen wollte. Pelle drückte auf den Knopf der Zentralverriegelung und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Er wartete, bis der Mann direkt neben das Auto getreten war und vergeblich am Türgriff zog.

»Sorry, mein Freund, aber dieses Mal fahre ich dich nicht.«

»Bitte?«

Pelle musterte ihn. Auf den Wangen des Mannes waren Spuren von Tränen, aber was ging es ihn an, was mit diesem Typen los war? Es konnte ja sein, dass seine Geschichte wirklich traurig war, aber in Oslo überlebte man als Taxifahrer nicht, wenn man dem Ärger und den Sorgen der anderen Tür und Tor öffnete.

»Hör mal, ich habe dich kotzen gesehen. Wenn du im Auto kotzt, kostet dich das tausend Kronen und mich einen verlorenen Arbeitstag. Und als du beim letzten Mal aus meinem Auto gestiegen bist, warst du vollkommen blank. Deshalb verzichte ich lieber, verstanden?«

Pelle fuhr die Scheibe wieder ganz nach oben, richtete den Blick nach vorn und hoffte, dass der junge Mann ging und keinen Ärger machte. Andernfalls würde er einfach wegfahren. Verdammt, sein Bein schmerzte an diesem Abend höllisch. Durch das Seitenfenster sah er den Mann etwas aus der Tasche nehmen und in den Spalt der Scheibe klemmen.

Pelle drehte leicht den Kopf. Es war ein Tausender.

Er schüttelte den Kopf, aber der Typ blieb einfach stehen und wartete. Pelle war nicht wirklich beunruhigt, der Kerl hatte auch bei der letzten Fahrt keinen Ärger gemacht. Im Gegenteil, statt zu nörgeln und von Pelle zu verlangen, doch noch ein bisschen weiter zu fahren, wie es die meisten ohne Geld wohl getan hätten, hatte er sich bedankt, als der Betrag aufgebraucht war und Pelle ihn abgesetzt hatte. Und dieser Dank hatte so aufrichtig geklungen, dass Pelle ein schlechtes Gewissen bekommen hatte, ihn nicht doch bis zum Hospiz gefahren zu haben. Mehr als zwanzig Minuten hätte er dafür nicht gebraucht.

Pelle seufzte und öffnete per Knopfdruck die Türen.

Der Mann ließ sich auf den Rücksitz fallen. »Danke, vielen, vielen Dank.«

»Schon okay. Wohin?«

»Erst hoch nach Berg, ich muss da nur kurz etwas abgeben, da können Sie vielleicht warten, und anschließend ins Hospiz. Ich bezahle natürlich im Voraus.«

»Nicht nötig«, sagte Pelle und ließ den Motor an. Seine Frau hatte recht, er war zu gut für diese Welt.

Teil III

Kapitel 21

Es war zehn Uhr morgens, und die Sonne schien längst auf die Waldemar Thranes gate. Martha parkte ihren Golf Cabrio. Sie stieg aus und ging mit leichten Schritten an der Konditorei vorbei zum Eingang des Hospizcafés. Es entging ihr nicht, dass ihr einige Männer – und manchmal auch Frauen – nachblickten. Für sie war das nichts Ungewöhnliches, aber an diesem Tag kam es ihr so vor, als erntete sie besonders viel Aufmerksamkeit. Sie schrieb das ihrer ungewöhnlich guten Laune zu. Vermutlich sah man ihr die an. Dabei hatte sie eigentlich gar keinen Grund. Sie hatte sich mit ihrer zukünftigen Schwiegermutter über das Hochzeitsdatum gestritten, mit Grete – der Leiterin des Hospizes – über den Dienstplan und mit Anders über so gut wie alles. Vielleicht war ihre Laune einfach darauf zurückzuführen, dass sie freihatte, Anders mit seiner Mutter übers Wochenende auf die Hütte gefahren war und sie damit das gute Wetter ganz für sich allein hatte. Mindestens zwei Tage lang.

Als sie das Café betrat, hoben sich all die paranoiden Köpfe. Bis auf einen. Sie lächelte und winkte kurz als Reaktion auf die Zurufe. Dann ging sie zu den beiden jungen Frauen hinter dem Tresen und gab einer von ihnen den Schlüssel.