»Das wird schon klappen. Und denkt immer dran, dass ihr zu zweit seid.«
Die Frauen nickten mit blassen Gesichtern.
Martha goss sich eine Tasse Kaffee ein. Sie stand mit dem Rücken zum Gastraum. Wusste, dass sie etwas lauter als notwendig gesprochen hatte. Drehte sich um. Lächelte gespielt überrascht, als sie seinem Blick begegnete. Dann ging sie zu dem Tisch am Fenster, den er für sich hatte. Führte die Tasse an die Lippen und sagte über den Rand hinweg:
»So früh schon auf?«
Er zog eine Augenbraue hoch, und sie merkte selbst, wie bescheuert das klang, schließlich war es bereits nach zehn.
»Die meisten hier stehen etwas später auf«, fügte sie rasch hinzu.
»Mag schon sein«, sagte er lächelnd.
»Du, ich wollte mich nur wegen der Sache gestern entschuldigen.«
»Gestern?«
»Ja, Anders ist gewöhnlich nicht so, aber manchmal … Wie dem auch sei, er hatte kein Recht, so mit dir zu reden. Dich einfach als Junkie zu bezeichnen und …«
Stig schüttelte den Kopf. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, du hast ja nichts falsch gemacht. Und dein Freund auch nicht. Ich bin ja ein Junkie.«
»Und ich fahre schrecklich schlecht Auto. Das heißt noch lange nicht, dass ich will, dass mir das alle ins Gesicht sagen.«
Er lachte, und sie sah, wie das Lachen seine Gesichtszüge weicher werden ließ und ihn wieder in einen Jungen verwandelte.
»Wie ich sehe, fährst du aber trotzdem.« Er nickte in Richtung Fenster. »Dein Auto?«
»Ja, ich weiß, das ist ein altes Wrack, aber ich fahre gerne selbst. Und du?«
»Keine Ahnung, ich bin nie Auto gefahren.«
»Nie? Wirklich?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wie traurig«, sagte sie.
»Traurig?«
»Es gibt nichts Besseres, als im strahlenden Sonnenschein Cabriolet zu fahren.«
»Auch für einen …«
»Ja, auch für einen Junkie«, sagte sie lachend. »Der beste Trip, den es gibt, das verspreche ich dir.«
»Dann musst du mich mal mitnehmen.«
»Gerne«, sagte sie. »Wie wäre es gleich jetzt?«
Sie sah die Überraschung in seinem Blick. Die Worte waren ganz unbedacht über ihre Lippen gekommen, und die anderen beobachteten sie. Und wenn schon. Sie saß ja auch stundenlang mit anderen Bewohnern zusammen und redete über deren persönliche Probleme, ohne dass jemand das komisch fand. Das war schließlich Teil ihres Jobs. Außerdem hatte sie heute ihren freien Tag, und da konnte sie doch wohl tun und lassen, was sie wollte?
»Gerne«, sagte Stig.
»Ich habe aber nur ein paar Stunden.« Nervosität hatte sich in Marthas Stimme geschlichen. Bereute sie es bereits?
»Vielleicht kann ich es dann ja mal selbst versuchen«, sagte er. »Das Fahren. Scheint ja Spaß zu machen.«
»Ich kenne da einen Ort, komm.«
Martha spürte die Blicke in ihrem Rücken, als sie nach draußen gingen.
Er war so konzentriert, dass sie lachen musste. Vornübergebeugt umklammerte er das Lenkrad, während er unendlich langsam in großen Kreisen über den sonntäglich verwaisten Parkplatz in Økern kurvte.
»Gut«, sagte sie. »Und jetzt versuchst du mal Achter.«
Er machte, was sie sagte. Gab etwas mehr Gas, stieg aber sofort wieder vom Pedal, als der Motor lauter wurde. »Wir hatten übrigens Besuch von der Polizei«, sagte Martha. »Sie haben mich gefragt, ob wir neue Joggingschuhe ausgegeben haben. Es hatte irgendetwas mit dem Iversen-Mord zu tun. Ich weiß nicht, ob du was davon mitbekommen hast.«
»Ja, ich hab davon gelesen«, sagte er.
Sie sah ihn kurz an. Es gefiel ihr, dass er las. Viele der Bewohner lasen kein Wort, interessierten sich nicht für die Nachrichten und wussten weder, wer Regierungschef war noch was 9/11 bedeutete. Dafür konnten sie einem auf die Krone genau sagen, was Speed kostete, wie der Reinheitsgrad des Heroins war und welche Wirkstoffkonzentration ein neues Medikament hatte.
»Apropos Iversen, hieß so nicht auch der, der dir vielleicht einen Job beschaffen könnte?«
»Ja, ich war da, aber er hatte nichts.«
»Hm, schade.«
»Ich gebe so schnell nicht auf, ich habe noch ein paar andere Namen auf der Liste.«
»Gut! Du hast eine richtige Liste?«
»Ja.«
»Sollen wir mal das Schalten versuchen?«
Zwei Stunden später rasten sie über den Mosseveien in Richtung Süden. Sie fuhr. Neben ihnen glitzerte der Oslofjord in der Sonne. Er hatte ungeheuer schnell gelernt. Anfangs hatte er beim Kuppeln und Schalten noch ein paar Fehler gemacht, doch als er die ausgemerzt hatte, schien sein Hirn richtig programmiert zu sein, es wiederholte, was es gelernt hatte. Auch das Anfahren am Berg klappte bereits beim dritten Versuch ohne Handbremse. Und als er die Geometrie des Einparkens verstanden hatte, gelang ihm auch das mit fast schon irritierender Leichtigkeit.
»Was ist das?«
»Depeche Mode«, sagte er. »Gefällt es dir?«
Sie lauschte den mahnenden zweistimmigen Vokalen und den maschinenartigen Rhythmen.
»Ja«, sagte sie und stellte die Musik lauter. »Hört sich sehr … englisch an.«
»Stimmt. Was hörst du sonst noch?«
»Hm. Etwas lebhaft Dystopisches. Wie Leute, die ihre eigenen Depressionen nicht ernst nehmen, wenn du weißt, was ich meine.«
Er lachte. »Ich weiß, was du meinst.«
Nach ein paar Minuten auf der Autobahn fuhr sie bei Nesoddtangen ab. Die Straßen wurden schmaler, der Verkehr weniger. Nach einer Weile hielt sie am Straßenrand.
»Bist du bereit für die Wirklichkeit?«
Er nickte. »Ja, ich bin bereit für die Wirklichkeit.«
Sie stiegen aus und tauschten die Plätze. Er setzte sich hinter das Steuer, den Blick konzentriert geradeaus gerichtet. Die Art, wie er betont hatte, dass er bereit für die Wirklichkeit war, bedeutete, dass er damit nicht nur das Autofahren meinte. Er drückte die Kupplung und legte den Gang ein. Tippte vorsichtig aufs Gas.
»Spiegel«, sagte sie, während sie selbst in den Seitenspiegel sah.
»Alles frei«, sagte er.
»Blinker.«
Er drückte den Blinkerhebel nach unten, murmelte ein »An«, dann ließ er die Kupplung gleichmäßig kommen.
Sie fuhren langsam auf die Straße. Mit etwas zu hoher Umdrehung.
»Handbremse«, sagte sie und griff nach dem Hebel zwischen den Sitzen, um sie zu lösen. Als sie seine Hand spürte, die das Gleiche wollte, zuckte sie zurück, als hätte sie sich verbrannt.
»Danke«, sagte er.
Sie fuhren zehn Minuten in völliger Stille. Ließen einen Wagen, der es eilig zu haben schien, vorbei. Ein Lastzug kam auf sie zu. Sie hielt die Luft an. Wusste, dass sie auf dieser schmalen Straße – auch wenn es Platz genug gab – automatisch bremsen und näher an den Straßenrand fahren würde. Aber Stig ließ sich nicht beirren. Und das Merkwürdige war, dass sie ihm vertraute. Er hatte den Blick dafür. Ein Gefühl für das Dreidimensionale. Wie so viele Männer. Seine Hände lagen ruhig auf dem Lenkrad, und sie dachte, dass ihm fehlte, wovon sie im Übermaß hatte: Zweifel an den eigenen Entscheidungen. Sie sah die dicken Adern auf seinen Handrücken, durch die das Herz ruhig das Blut pumpte. Bis in die Fingerspitzen. Dann sah sie, wie die Hände schnell, aber nicht übertrieben nach rechts gegenlenkten, als der Sog des Lastwagens das Auto packte.
»He!«, lachte er aufgeräumt und sah zu ihr herüber. »Hast du das gespürt?«
»Ja«, sagte sie. »Das habe ich.«
Sie dirigierte ihn bis an den äußersten Rand von Nesodden und dort in einen schmalen Weg, wo sie den Wagen hinter einem kleinen niedrigen Kassenhäuschen mit kleinen Fenstern auf der Rückseite und großen nach vorn zum Fjord abstellten.
»Umgebaute Ferienhäuschen aus den Fünfzigern.« Martha lief vor ihm durch das hohe Gras. »Ich bin in einem davon aufgewachsen. Und hier war unser heimlicher Sonnenplatz …«
Sie hatten eine Felsnase erreicht. Unter ihnen lag das Meer. Das fröhliche Rufen der dort badenden Kinder schallte zu ihnen herauf. Etwas weiter entfernt lagen die Kaianlagen, von wo aus die Fähren nach Norden ins Zentrum von Oslo pendelten. Bei gutem Wetter schien die Entfernung nur wenige Hundert Meter zu betragen, dabei waren es fünf Kilometer. Die meisten, die auf Nesodden wohnten und in Oslo arbeiteten, nahmen lieber die Fähre, als mit dem Auto die fünfundvierzig Kilometer um den Fjord herumzufahren.