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Sie setzte sich hin und sog die salzige Luft ein.

»Meine Eltern und ihre Freunde nannten Nesodden immer ­Lilleberlin«, sagte Martha. »Wegen all der Künstler, die hier wohnten. Es war billiger, hier in den kalten Sommerhäuschen zu leben als drüben in der Stadt. Und wenn es im Winter zu kalt wurde, versammelte man sich einfach in dem am wenigsten kalten Häuschen. Und das war unseres. Dann saßen alle da und tranken bis in die Morgenstunden Rotwein, wir hatten ja gar nicht so viele Matratzen. Anschließend haben wir dann alle zusammen gefrühstückt.«

»Hört sich gut an.« Stig setzte sich neben sie.

»So war das wirklich, die Menschen haben damals einander geholfen.«

»Die reinste Idylle also?«

»Na ja. Es kam schon mal vor, dass sie um Geld stritten, die Kunstwerke der anderen kritisierten oder mit deren Frauen schliefen. Aber das war das Leben, es war spannend. Meine Schwester und ich haben wirklich geglaubt, in Berlin zu leben, bis Papa mir eines Tages eine Karte zeigte, auf der Berlin eingezeichnet war. Und er erklärte mir, dass es bis dorthin verdammt weit zu fahren sei, mindestens tausend Kilometer. Aber eines Tages würden wir die Reise machen. Wir wollten zum Brandenburger Tor und zum Schloss Charlottenburg, und da wollten meine Schwester und ich die Prinzessinnen sein.«

»Seid ihr jemals gefahren?«

»Ins große Berlin?« Martha schüttelte den Kopf. »Mama und Papa hatten nie Geld. Und sie wurden auch nicht sonderlich alt. Ich war achtzehn, als sie starben, und musste mich um meine Schwester kümmern. Aber ich habe immer von Berlin geträumt. So sehr, dass ich gar nicht mehr sicher bin, ob es das wirklich gibt.«

Stig nickte langsam, schloss die Augen und legte sich nach hinten ins Gras.

Sie sah ihn an. »Sollen wir noch mal deine Band hören?«

Er öffnete ein Auge. Blinzelte. »Depeche Mode? Die CD ist in der Anlage im Auto.«

»Gib mir dein Handy«, sagte sie.

Er reichte es ihr, und sie tippte los, bis aus den kleinen Lautsprechern rhythmische Atemgeräusche kamen. Dann die tote Stimme, die sie auf eine Reise mitnehmen wollte. Er sah so überrascht aus, dass sie lachen musste.

»Nennt sich Spotify«, sagte sie und legte das Telefon zwischen sie beide. »Du kannst die Lieder einfach im Netz streamen. Ist dir das alles neu?«

»Wir hatten im Gefängnis keine Handys. Die waren nicht erlaubt«, sagte er und griff zum Telefon.

»Im Gefängnis?«

»Ja, ich habe gesessen.«

»Hast du gedealt?«

Stig hielt sich die Hand schützend über die Augen. »Ja, habe ich.«

Sie nickte. Lächelte schnell. Was hatte sie erwartet? Dass er zwar Heroin nahm, aber ein gesetzestreuer Bürger war? Er hatte getan, was er tun musste, genau wie all die anderen.

Sie nahm ihm das Mobiltelefon aus den Händen und zeigte ihm über die GPS-Funktion, wo sie sich befanden und wie man über den Navigator den schnellsten Weg in alle möglichen Orte auf der Welt finden konnte. Dann machte sie ein Foto von ihm, startete die Videokamera und bat ihn, etwas zu sagen.

»Das ist ein schöner Tag«, sagte er.

Sie hielt die Aufnahme an und spielte sie für ihn ab.

»Ist das meine Stimme?«, fragte er überrascht und sichtlich betroffen.

Sie drückte auf Stop und spielte die Aufnahme noch einmal ab. Seine Stimme klang durch die Lautsprecher eng und metallisch. »Ist das meine Stimme?«

Sie musste laut lachen, als sie sein Gesicht sah, und noch mehr, als er sich das Telefon schnappte, den Aufnahmeknopf fand und sagte, dass jetzt aber sie an der Reihe sei. Sie solle etwas sagen, nein, singen.

»Nein!«, sie lachte. »Mach lieber ein Foto.«

Er schüttelte den Kopf. »Stimmen sind besser.«

»Warum?«

Er machte eine Bewegung, als wollte er sich die Haare hinter die Ohren schieben. Typisch für Leute, die über viele Jahre lange Haare gehabt und sich noch nicht daran gewöhnt hatten, dass sie nun kurz waren, dachte sie.

»Menschen verändern ihr Aussehen. Aber die Stimmen bleiben.«

Er sah über das Meer, und sie folgte seinem Blick, konnte aber nichts als die sonnenglitzernde Wasseroberfläche, Möwen, Inseln und weit draußen ein Segel entdecken.

»Einige Stimmen schon«, sagte sie. Sie dachte an die Kinderstimme. Die Kinderstimme im Walkie-Talkie. Die sich nicht änderte.

»Du singst gerne«, sagte er. »Aber nicht für andere.«

»Warum glaubst du das?«

»Weil du Musik magst. Als ich dich gebeten habe zu singen, hast du so geschockt ausgesehen wie das Mädchen im Café, dem du den Schlüssel gegeben hast.«

Seine Worte versetzten ihr einen Stich. Hatte er ihre Gedanken gelesen?

»Wovor hatte sie solche Angst?«

»Nichts Wichtiges«, sagte Martha. »Sie soll mit einer Kollegin im Archiv auf dem Dachboden ein paar Dokumente einsortieren. Niemand geht da gerne hoch. Wir wechseln uns deshalb mit den Arbeiten da oben ab.«

»Was ist denn so schlimm an dem Dachboden?«

Martha beobachtete eine Möwe, die hoch über dem Meer still in der Luft stand und nur hin und wieder den Kopf bewegte. Dort oben musste der Wind viel stärker sein.

»Glaubst du an Gespenster?«, fragte sie leise.

»Nein.«

»Ich auch nicht.« Sie legte sich nach hinten und stützte sich auf die Ellenbogen, er verschwand aus ihrem Blickfeld. »Das Hospiz, also das Haus, sieht ja so aus, als wäre es über hundert Jahre alt. Das stimmt aber nicht. Es stammt aus den späten Zwanzigern. In den ersten Jahren war es ein ganz normales Pensionat …«

»Die schmiedeeisernen Buchstaben auf der Fassade …?«

»Richtig, die stammen noch aus der Zeit. Aber während des Krieges machten die Deutschen daraus ein Wohnheim für unverheiratete Frauen mit Kindern. Schon damals gab es dort viele traurige Schicksale. Und die haben sich in den Wänden festgesetzt. Eine Frau bekam dort einen Jungen und behauptete steif und fest, es handele sich um eine Jungfrauengeburt. Das war ­damals keine ungewöhnliche Behauptung. Der Mann, den alle im Verdacht hatten, war verheiratet und leugnete natürlich die Vaterschaft. Es kursierten Gerüchte über ihn. Eines lautete, er sei im Widerstand. Ein anderes, er sei ein Spion der Deutschen, der die Widerstandsbewegung infiltriert hatte. Die Deutschen sollten der Frau deshalb den Platz gegeben und den Mann nicht verhaftet haben. Trotzdem wurde der Mann eines Morgens in einer vollbesetzten Straßenbahn im Zentrum von Oslo erschossen. Wer das getan hat, wurde nie ermittelt. Die Widerstandsbewegung behauptete, einen Verräter liquidiert zu haben, während die Deutschen vorgaben, einen Widerstandskämpfer erschossen zu haben. Wie um die Richtigkeit ihrer Aussage zu dokumentieren, hängten die Deutschen den Toten zur Abschreckung an den Leuchtturm Kavringen fyr.«

Sie richtete sich auf und zeigte über das Wasser.

»Wer tagsüber am Leuchtturm vorbeikam, musste den Anblick der vertrockneten, von Möwen angefressenen Leiche ertragen, und wer nachts dort vorüberfuhr, erschrak über den riesigen Schatten, den der Tote auf das Wasser warf. Eines Tages war die Leiche dann plötzlich weg. Jemand meinte, die Widerstandsbewegung hätte ihn abgenommen. Aber von diesem Augenblick an wurde die Frau im Heim immer verrückter, sie behauptete, der Vater ihres Kindes spuke dort herum. Er sei nachts in ihr Zimmer gekommen, habe sich über die Krippe des Kindes gebeugt und sich dann zu ihr umgewandt. Die von den Möwen ausgehackten Augen waren nur noch schwarze Löcher.«

Stig zog die Augenbrauen hoch.

»So hat mir das Grete erzählt, die Leiterin des Ila«, sagte sie. »Die Geschichte geht aber noch weiter. Das Kind soll beinahe ununterbrochen geweint haben, und wenn die Frauen in den Nebenzimmern sich beschwerten, antwortete die Mutter nur, das Kind weine für sie beide und werde das auch bis ans Ende aller Tage tun.« Martha machte eine Pause. Dieser Teil der Geschichte hatte ihr immer am besten gefallen. »Es hieß, dass sie nicht einmal selbst wusste, für wen der Kindsvater arbeitete, dass sie ihn aber als Rache dafür, dass er sich nicht zu dem Kind bekannte, bei den Deutschen als Widerstandsmann und beim Widerstand als Verräter angeschwärzt hat.«