Sie fuhr so schnell, als hätten sie noch einen Termin. Oder als müssten sie irgendjemandem entkommen. Die weißen Wolkentürme über dem Fjord, die sie im Rückspiegel sehen konnte, erinnerten sie an eine Braut. Eine Braut, die zielstrebig und unaufhaltsam mit ihrem Schleier aus Regen hinter ihnen her war.
Die ersten dicken Tropfen trafen sie, als sie im dichten Verkehr auf dem Ring 3 standen. In diesem Moment wusste sie, dass sie verloren hatten.
»Fahr hier ab«, sagte Stig und zeigte auf die Ausfahrt.
Sie tat, was er sagte, und plötzlich waren sie in einer Einfamilienhaussiedlung.
»Hier nach rechts«, sagte Stig.
Die Tropfen fielen immer dichter. »Wo sind wir?«
»Berg. Siehst du das gelbe Haus dort?«
»Ja.«
»Ich kenne die früheren Besitzer. Das Haus steht leer. Halt vor der Garage, ich mache dir auf.«
Fünf Minuten später stand das Auto in der Garage zwischen rostigem Werkzeug, abgefahrenen Reifen und mit Spinnweben überzogenen Gartenmöbeln. Sie starrten nach draußen in den hämmernden Regen.
»Sieht nicht so aus, als würde das so bald wieder aufhören«, sagte Martha. »Und das Verdeck ist kaputt.«
»Verstanden«, sagte Stig. »Kaffee?«
»Wo?«
»In der Küche. Ich weiß, wo der Schlüssel liegt.«
»Aber …«
»Das ist mein Haus.«
Sie sah ihn an. Sie war nicht schnell genug gefahren. Hatte es nicht geschafft. Was es auch war, es war zu spät.
»Gerne«, sagte sie.
Kapitel 22
Simon schob den Mundschutz zurecht und studierte den Toten. Er erinnerte ihn an etwas.
»Dieser Komplex hier gehört der Stadt und wird auch direkt von ihr verwaltet«, sagte Kari. »Die Übungsräume werden beinahe gratis an junge Bands vermietet. Sie wollen die Jugendlichen von der Straße haben. Sie sollen lieber darüber singen, Gangster zu sein, als wirklich da draußen ihr Unwesen zu treiben.«
Simon erinnerte sich plötzlich. Der erfrorene Jack Nicholson in The Shining. Diesen Film hatte er allein gesehen. Nach ihr – und vor Else. Vielleicht war es auch bloß wegen des Schnees. Der Tote sah aus, als säße er in einer Schneewehe. Das Heroin hatte sich in einer feinen Schicht auf ihn gelegt und im ganzen Raum verteilt. Um Mund, Nase und Augen herum war das Pulver feucht geworden und verklumpt.
»Eine Band, die weiter hinten ihren Übungsraum hat, hat ihn gefunden, als sie gehen wollten«, sagte Kari.
Der Tote war bereits in der vergangenen Nacht gefunden worden, aber Simon hatte erst morgens, als er zur Arbeit kam, davon erfahren. Drei Leichen, und Kripos hatte auch diesen Fall übernommen. Der Polizeipräsident hatte, wie es so schön hieß, das Kriminalamt um Unterstützung gebeten, den Fall also abgetreten, ohne sich vorher auch nur mit dem ihm unterstellten Morddezernat zu beraten. Vermutlich wäre das Ergebnis dasselbe gewesen, aber trotzdem.
»Sein Name lautet Kalle Farrisen«, sagte Kari.
Sie zitierte aus dem vorläufigen Bericht. Simon hatte den Polizeipräsidenten angerufen und ihn um den Bericht und Zugang zum Tatort gebeten. Schließlich war die Tat ja in ihrem Distrikt passiert.
»Simon«, hatte der Polizeipräsident gesagt. »Du darfst dir das gerne anschauen, aber misch dich da nicht ein. Du und ich, wir sind zu alt für dieses blöde Kompetenzgerangel.«
»Du bist vielleicht zu alt dafür«, hatte Simon gesagt.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe, Simon.«
Simon hatte schon manchmal darüber nachgedacht. Es stand außer Frage, wer von ihnen das größere Potential gehabt hatte. Nur wann waren die Karten neu gemischt worden? Wann war die Entscheidung gefallen, wer welchen Stuhl zugesprochen bekam? Wer auf dem Chefsessel im Büro des Polizeipräsidenten Platz nehmen sollte und wer auf dem abgewetzten Stuhl im Morddezernat, degradiert und kastriert? Und wie hatte der Beste von ihnen auf einem Stuhl in seinem eigenen Arbeitszimmer enden können, mit einer Kugel aus seiner eigenen Waffe im Kopf?
»Bei den Gitarrensaiten, die man ihm um den Kopf gelegt hat, handelt es sich um eine tiefe E-Saite und eine G-Saite der Marke Ernie Ball. Und das Jack-Kabel ist für eine Fender«, zitierte Kari aus dem Bericht.
»Und der Ventilator und die Heizung?«
»Hä?«
»Vergessen Sie es, reden Sie weiter!«
»Der Ventilator lief. Die vorläufige Schlussfolgerung der Rechtsmedizin ist, dass Kalle Farrisen erdrosselt wurde.«
Simon studierte den Knoten im Jack-Kabel. »Für mich sieht das so aus, als wäre er gezwungen worden, das Dope einzuatmen. Der Ventilator hat es ihm direkt ins Gesicht gepustet. Meinen Sie nicht auch?«
»Doch«, sagte Kari. »Eine Zeitlang hat er vermutlich die Luft anhalten können, aber irgendwann musste er atmen. Durch die Gitarrensaiten konnte er den Kopf nicht wegdrehen. Versucht hat er es aber trotzdem, deshalb die Wunde von der dünnen Saite. Irgendwann landete das Dope aber in Nase, Magen und Lunge und wurde vom Blut aufgenommen. Er verlor das Bewusstsein, atmete aber weiter, wenn auch etwas schwächer, weil das Heroin auch die Atmung schwächte. Und irgendwann setzte die Atmung dann ganz aus.«
»Klassischer Überdosistod«, sagte Simon. »Genau wie bei vielen, die seinen Stoff gekauft haben.« Er zeigte auf das Jack-Kabel. »Das wurde von einem Linkshänder verknotet.«
»So geht es nicht weiter. Schon wieder Sie.«
Sie drehten sich um. Åsmund Bjørnstad hatte sich in der Tür aufgebaut und grinste schief. Hinter ihm standen zwei Männer mit einer Bahre.
»Die Leiche wird jetzt abtransportiert, wenn Sie also zum Schluss kommen könnten …«
»Wir haben gesehen, was wir sehen mussten«, sagte Simon und erhob sich mühsam. »Dürfen wir uns auch noch den Rest anschauen?«
»Aber sicher«, sagte der Kripos-Beamte noch immer grinsend und wies ihnen galant den Weg.
Simon sah überrascht zu Kari, die die Augenbrauen hochgezogen hatte: nicht schlecht.
»Zeugen?«, fragte Simon im Fahrstuhl und betrachtete die Glassplitter auf dem Boden.
»Nein«, sagte Bjørnstad. »Aber der Gitarrist der Band, die den Toten gefunden hat, hat zu Protokoll gegeben, dass im Laufe des Abends jemand hier war. Der Mann soll behauptet haben, in einer Band namens The Young Hopeless zu spielen. Wir haben das überprüft, aber die Band gibt es schon lange nicht mehr.«
»Wie sah er aus?«
»Laut Aussage des Zeugen hat er einen Kapuzenpulli getragen, die Kapuze aber nicht abgesetzt. Die jungen Leuten machen das heute ja so.«
»Dann war die Person jung?«
»Der Zeuge meinte das. Vermutlich zwischen zwanzig und fünfundzwanzig.«
»Welche Farbe hatte der Kapuzenpulli?«
Bjørnstad klappte sein Notizbuch auf. »Grau, vermutlich.«
Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich, und sie stiegen vorsichtig über das Absperrband und die Wimpel der Spurensicherung. Auf dem Boden vor ihnen waren vier Personen. Zwei lebende und zwei tote. Simon nickte einem der Lebenden kurz zu. Er hatte einen roten Bart und beugte sich, auf allen vieren, mit einer kleinen Taschenlampe über einen Toten, der eine große Wunde unter einem Auge hatte. Sein Kopf lag in einer tropfenförmigen Blutlache, die am oberen Rand in Flecken und Spritzer überging. Simon hatte einmal versucht, Else zu erklären, warum ein Tatort schön sein konnte, diesen Versuch dann aber nie wieder unternommen.
Der andere, deutlich umfangreichere Tote lag über einer Türschwelle, den Oberkörper in einem angrenzenden Raum.
Simons Blick glitt automatisch über die Wände und fand die Einschusslöcher. Er registrierte die Luke in der Tür und den Spiegel auf der anderen Seite an der Wand. Dann ging er rückwärts zurück in den Fahrstuhl, hob den rechten Arm und streckte ihn aus. Korrigierte sich selbst und nahm den linken Arm. Er musste einen Schritt nach rechts treten, damit der Winkel mit der Schussbahn durch den Kopf und – sollte die Flugbahn der Kugel durch den Aufprall im Schädel nicht abgelenkt worden sein – in die Wand stimmte. Er schloss die Augen. Vor gar nicht langer Zeit hatte er schon einmal so dagestanden. Vor dem Haus der Iversens. Da hatte er mit rechts gezielt und war etwas zur Seite getreten – einen Fuß neben den Weg in die weiche Erde gesetzt –, damit der Winkel stimmte. Die gleiche weiche Erde wie um die Büsche herum. Nur dass er dort keinen Fußabdruck gefunden hatte.