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Ein anderes Foto – vermutlich ein paar Jahre später aufgenommen – zeigte die beiden zusammen mit zwei anderen Paaren. Martha hatte spontan das Gefühl, die Männer und nicht die Frauen verbanden diese beiden Paare. Irgendwie waren sie sich ähnlich. Die gleiche, beinahe posierende Haltung, das selbstsichere Lächeln, die Art, wie sie sich aufplusterten. Drei Alphamännchen, von denen jeder sein Revier markierte. Gleichwertig, dachte sie.

Sie ging in die Küche. Stig hatte ihr den Rücken zugedreht und beugte sich über den Kühlschrank.

»Hast du Kaffee gefunden?«, fragte sie.

Er drehte sich zu ihr um, nahm schnell einen gelben Post-it-Zettel von der Kühlschranktür und steckte ihn in die Tasche.

»Klar«, sagte er und öffnete den Schrank über dem Spülbecken. Mit schnellen, geübten Bewegungen löffelte er Kaffee in einen Filter, goss Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Dann zog er die Jacke aus und hängte sie über die Lehne eines Küchenstuhls. Nicht des ihm am nächsten stehenden, sondern des am Fenster. Sein Küchenstuhl.

»Du hast hier gewohnt«, sagte sie.

Er nickte.

»Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich.«

Er lächelte schief. »Das haben sie auch immer gesagt.«

»Haben?«

»Meine Eltern leben nicht mehr.«

»Vermisst du sie?«

Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, wie sehr ihn die ein­fache, fast alltägliche Frage traf. Wie ein Keil, der in einen Spalt getrieben wird, den man vergessen hat abzudichten. Er blinzelte zweimal, öffnete und schloss den Mund, als wären die Schmerzen so unerwartet und plötzlich, dass es ihm die Sprache verschlug. Er nickte und drehte sich zur Kaffeemaschine um, rückte die Kanne zurecht, als hätte sie schief gestanden.

»Dein Vater sieht auf den Bildern ziemlich dominant aus. Wie ein richtiger Chef.«

»Das war er auch.«

»Auf eine gute Weise?«

Er wandte sich zu ihr um. »Ja, auf eine gute Weise. Er hat auf uns aufgepasst.«

Sie nickte und dachte an ihren eigenen Vater, bei dem das so ganz anders gewesen war.

»Musste man denn auf dich aufpassen?«

»Ja.« Er lächelte ganz spontan. »Das musste man.«

»Warum? Du denkst doch an was.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Red schon.«

»Ach, ich habe nur gesehen, dass du dir den kaputten Sprung­ski angeguckt hast.«

»Was ist mit dem?«

Er sah abwesend auf die Kanne, in die jetzt der Kaffee tröpfelte. »Ostern sind wir meistens zu meinem Großvater nach Lesjaskog gefahren. Mein Vater hielt den Rekord auf der Schanze dort. Den davor hatte mein Großvater aufgestellt. Ich war fünfzehn Jahre alt und hatte den ganzen Winter hindurch Skispringen trainiert, um den Rekord meines Vaters zu knacken. Aber Ostern war spät, und es war schon ziemlich warm, und als wir zu Großvater kamen, war unten am Auslauf, auf den die Sonne schien, nur noch wenig Schnee. Es schauten sogar schon Zweige und Steine heraus. Aber ich musste es einfach versuchen.«

Er sah schnell zu Martha; sie nickte ihm aufmunternd zu.

»Mein Vater hat mir das angesehen und natürlich verboten, weil es viel zu gefährlich war. Ich nickte nur, überredete dann aber den Jungen vom Nachbarhof, den Sprung zu bezeugen und die Länge zu messen. Er hat mir auch geholfen, an der Stelle, an der ich landen wollte, mehr Schnee festzutreten. Ich bin dann nach oben gelaufen und habe mir die Sprungski angeschnallt, die Papa von Großvater geerbt hatte. Die Spur war wahnsinnig glatt, und ich habe den Absprung ziemlich gut erwischt. Viel zu gut. Ich flog und flog, fühlte mich wie ein Adler, und mir war plötzlich alles egal. Es ging doch ums Fliegen, es gab nichts Besseres.« Martha sah, wie seine Augen glänzten. »Vier Meter unterhalb der Stelle, die wir mit Schnee ausgebessert hatten, bin ich gelandet. Die Ski gruben sich sofort in den Matsch, und ein scharfer Stein riss den rechten Ski auf, als wäre er eine Banane.«

»Und du?«

»Ich stürzte. Pflügte eine Spur in den Hang und den Auslauf.«

Martha legte sich entsetzt die Hand auf das Schlüsselbein. »Mein Gott, warst du verletzt?«

»Ich war wirklich blau und gelb und klitschnass. Aber gebrochen hatte ich mir nichts. Vermutlich hätte ich das auch nicht einmal gemerkt, denn ich habe mich die ganze Zeit nur gefragt, was Papa wohl sagen wird. Ich hatte etwas Verbotenes getan und dabei auch noch seine Skier geschrottet.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nicht viel. Er hat mich bloß gefragt, was ich für eine angemessene Strafe halten würde.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Ich habe drei Tage Hausarrest vorgeschlagen. Er meinte aber, zwei würden reichen, es sei ja Ostern. Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter mir erzählt, dass mein Vater, während ich mit Hausarrest drinnen hockte, mit dem Nachbarjungen bei der Schanze war, um sich alles zeigen und wieder und wieder erzählen zu lassen. Er soll jedes Mal Tränen gelacht haben. Und dass sie ihm das Versprechen abgerungen hat, mir das nie zu erzählen, weil mich das sicher nur angestachelt hätte, noch mehr ­Unfug zu machen. Stattdessen nahm er den kaputten Ski mit nach Hause, angeblich wollte er ihn leimen. Natürlich Blödsinn. Mama meinte, dieser Ski ist seine schönste Erinnerung gewesen.«

»Darf ich mir den noch mal angucken?«

Er goss ihnen beiden Kaffee ein, und sie nahmen die Tassen mit in den Keller. Sie setzte sich auf den Deckel der Tiefkühltruhe, während er ihr den Ski zeigte. Ein schwerer weißer Ski der Marke Splitkein mit sechs Rillen auf der Unterseite. Sie dachte, dass dieser Tag wirklich besonders war. Sonne und Regen. Glitzerndes Meer und dunkler Keller. Ein Fremder, jemand, bei dem sie das Gefühl hatte, ihn schon ihr ganzes Leben zu kennen. So fern, so nah. So richtig, so falsch …

»Und stimmte es, was diesen Sprung anging?«, fragte sie. »Gab es wirklich nichts Besseres in deinem Leben?«

Er legte den Kopf nachdenklich auf die Seite. »Der erste Schuss. Der war noch besser.«

Sie schlug mit den Hacken vorsichtig gegen die Truhe. Vielleicht kam die Kälte ja von da. Mit einem Mal merkte sie, dass die Truhe eingeschaltet war, die kleine rote Lampe zwischen Griff und Schloss brannte. Seltsam, alles andere im Haus deutete doch darauf hin, dass es lange leer gestanden hatte.

»Na ja, wenigstens den Schanzenrekord hast du geknackt«, sagte sie.

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nicht?«

»Nur gestandene Sprünge zählen, Martha«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee.

Sie wusste, dass er schon einmal ihren Namen gesagt hatte, trotzdem fühlte es sich so an, als hätte zum ersten Mal überhaupt jemand ihren Namen gesagt.

»Dann musst du weiterspringen. Jungs müssen mit ihren Vätern konkurrieren und Mädchen mit ihren Müttern.«

»Meinst du?«

»Glaubst du nicht auch, dass alle Söhne denken, sie werden irgendwie wie ihre Väter? Und deshalb so schrecklich enttäuscht sind, wenn sie die Schwächen ihrer Väter entdecken; sie sehen darin die Schwächen und Niederlagen, die ihnen selbst im Leben bevorstehen. Und manchmal ist der Schock so groß, dass man schon aufgibt, bevor man überhaupt angefangen hat.«

»War das für dich so?«

Martha zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter hätte niemals bei meinem Vater bleiben dürfen. Aber sie hat sich gefügt. Ich habe ihr das mal ins Gesicht geschrien, als wir über irgendetwas gestritten haben. Über was, weiß ich gar nicht mehr. Wohl aber, dass ich gebrüllt habe, es sei ungerecht, mir zu verwehren, glücklich zu sein, nur weil sie sich das selbst nie gegönnt habe. Ich glaube, es gibt in meinem Leben nichts, was ich mehr bereue. Ihren verletzten Blick werde ich nie vergessen, ebenso wenig das, was sie gesagt hat: ›Dann hätte ich womöglich die ver­loren, die mich am glücklichsten macht – dich!‹«

Stig nickte und sah zum Kellerfenster. »Manchmal irren wir uns, wenn wir glauben, dass wir unsere Eltern durchschauen. Vielleicht waren sie ja gar nicht schwach. Vielleicht ist etwas geschehen, durch das man einen falschen Eindruck bekommen hat. Vielleicht waren sie stark. Vielleicht bereit, ihren Namen in den Dreck ziehen zu lassen, ihre Ehre zu verlieren, die Schande auf sich zu nehmen, nur um die zu retten, die sie liebten. Und wenn sie so stark waren, ist man selbst ja vielleicht auch stark.«