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Das Zittern in seiner Stimme war kaum hörbar. Kaum. Martha wartete, bis er den Blick wieder hob. Dann fragte sie:

»Was hat er gemacht?«

»Wer?«

»Dein Vater.«

Sein Adamsapfel zuckte auf und ab, sein Blinzeln wurde schneller, und er presste die Lippen zusammen. Sie sah ihm an, dass er sich nach dem Schanzentisch sehnte, der auf ihn zuraste. Er konnte sich in der glatten Spur ja noch immer zur Seite werfen, abbrechen.

»Er hat einen Abschiedsbrief unterschrieben, bevor sie ihn erschossen haben«, sagte Stig. »Um Mama und mich zu retten.«

Martha spürte, wie sich alles drehte, als er weitererzählte. Schon möglich, dass sie ihn über den Schanzentisch geschoben hatte, aber irgendwie war sie mit ihm gesprungen und konnte nun nicht mehr zurück, nicht mehr dorthin, wo sie nichts gewusst hatte. Hatte sie tief im Inneren geahnt, auf was sie sich einließ? Hatte sie sich diesen Sprung, diesen freien Fall gewünscht?

Er war mit seiner Mutter bei einem Ringkampf in Lillehammer gewesen. Sonst war sein Vater immer mitgekommen, aber er hatte gesagt, dass er an diesem Wochenende etwas Wichtiges erledigen müsse, und war deshalb zu Hause geblieben. Stig gewann in seiner Gewichtsklasse, und als sie nach Hause kamen, stürmte er nach oben ins Arbeitszimmer seines Vaters, um ihm alles zu erzählen. Sein Vater hatte ihm den Rücken zugedreht und den Kopf auf den Schreibtisch gelegt, so dass Stig erst glaubte, er sei über seiner Arbeit eingeschlafen. Dann sah er die Pistole.

»Ich hatte die Waffe nur einmal zuvor gesehen. Papa saß immer im Arbeitszimmer, wenn er Tagebuch schrieb, ein Buch mit gelben Seiten und einem schwarzen Lederumschlag. Als ich klein war, sagte er mal, das sei seine Art zu beichten. Ich dachte damals, Beichten wäre so etwas wie Schreiben. Erst als ich elf war und Religionsunterricht hatte, lernte ich, dass man auf diese Weise seine Sünden bekennt. Als ich aus der Schule zurück war, schlich ich mich in sein Arbeitszimmer und holte den Schreibtischschlüssel, ich wusste, wo er lag. Ich wollte wissen, was für Sünden mein Vater begangen hatte. Ich schloss auf …«

Martha holte tief Luft, als wäre sie es, die erzählte.

»Aber das Tagebuch war nicht da. Nur eine alte schwarze Pistole. Ich schloss wieder ab und schlich nach draußen. Aber in diesem Moment spürte ich die Scham. Ich hatte versucht, meinen eigenen Vater auszuspionieren, ich wollte ihn entlarven. Ich habe das nie jemandem erzählt, und ich wollte auch nie wieder wissen, wo er sein Tagebuch versteckte. Als ich aber an jenem Tag hinter meinem Vater stand, kamen die Erinnerungen zurück, und ich dachte, dass das die Strafe war für das, was ich getan hatte. Ich legte die Hand auf seinen Nacken, um ihn zu wecken. Aber da fehlte jede Wärme, und mehr als das. Sein ganzer Nacken strahlte Kälte aus, die harte marmorne Kälte des Todes. Ich wusste, dass es meine Schuld war. Dann sah ich den Brief …«

Martha blickte auf Stigs Halsschlagader, als er erzählte, wie er den Brief gelesen hatte, seine Mutter hinter ihm in der Tür. Er erzählte Martha, dass er den Brief am liebsten zerrissen und so getan hätte, als existierte er nicht. Aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Und als die Polizei kam, gab er den Brief ab, erkannte aber gleich, dass auch die Kollegen seines Vaters dieses Schreiben am liebsten vernichtet hätten. Seine Ader war angeschwollen wie bei einem Sänger, der es nicht gewohnt ist zu singen. Wie bei jemandem, der es nicht gewohnt ist zu sprechen.

Seine Mutter hatte sich in der Folgezeit Antidepressiva verschreiben lassen und später dann auf eigene Initiative noch andere Pillen genommen. Aber nichts hatte sie, wie sie es selbst ausgedrückt hatte, so schnell und effektiv kuriert wie Alkohol. Schnaps. Sie trank Wodka zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen. Er hatte versucht, auf sie aufzupassen und Pillen und Flaschen verschwinden zu lassen. Aber er brauchte Zeit, wenn er auf sie aufpassen wollte, und musste deshalb das Ringen und später auch die Schule aufgeben. Sie kamen, klingelten und erkundigten sich, warum jemand mit so guten Noten schwänzte, aber er warf sie nur raus. Seiner Mutter ging es immer schlechter, bis auch sie selbstmordgefährdet war. Er war sechzehn Jahre alt, als er beim Aufräumen im Zimmer seiner Mutter eine Spritze zwischen den Pillendosen fand. Natürlich wusste er, was das war oder wofür, zögerte aber trotzdem nicht, sich die Spritze selbst in den Schenkel zu setzen. Und das hatte alles geregelt. Am nächsten Tag fuhr er zur Plata und kaufte sich seine erste Dosis. Nach sechs Monaten hatte er alle Wertsachen verkauft und seine wehrlose Mutter bis aufs Hemd beklaut. Er kümmerte sich um nichts mehr, am wenigsten um sich selbst, aber er brauchte Geld, um die Schmerzen auf Distanz zu halten. Da er noch minderjährig war und nicht ins Gefängnis gesteckt werden konnte, ließ er sich dafür bezahlen, dass er sich zu kleineren Einbrüchen bekannte, die ältere Straftäter begangen hatten. Als sich nach seiner Volljährigkeit diese Möglichkeiten nicht mehr boten, der Stress und die Jagd nach Geld aber immer schlimmer wurden, willigte er ein, die Schuld für zwei Morde auf sich zu nehmen. Als Gegenleistung verlangte er, während seiner ganzen Strafe mit Drogen versorgt zu werden.

»Und jetzt hast du deine Strafe abgesessen?«, fragte sie.

Er nickte. »Ich ja.«

Sie glitt von der Tiefkühltruhe und ging zu ihm. Sie dachte nicht nach, dafür war es zu spät. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seine Halsschlagader. Er sah sie an, die großen schwarzen Pupillen füllten beinahe die gesamte Iris aus. Dann legte sie die Arme um seine Mitte, und er umschlang ihre Schultern, wie bei einem spiegelverkehrten Tanz. Eine ganze Weile standen sie so da, bis er sie an sich zog. Mein Gott, wie warm er war, er musste Fieber haben. Oder war das sie? Sie schloss die Augen und spürte seine Nase und seinen Mund auf ihren Haaren.

»Sollen wir nach oben gehen?«, flüsterte er. »Ich habe etwas für dich.«

Sie gingen in die Küche. Draußen regnete es nicht mehr. Er nahm etwas aus der Tasche seiner Jacke, die über dem Küchenstuhl hing.

»Die sind für dich.«

Die Ohrringe waren so schön, dass es ihr die Sprache verschlug.

»Gefallen sie dir nicht?«

»Die sind wunderbar, Stig. Aber wo hast du sie her … hast du sie gestohlen?«

Er sah sie ernst an, ohne zu antworten.

»Entschuldige, Stig.« Zu ihrer Verwirrung spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Ich weiß, dass du keine Drogen mehr nimmst, aber ich sehe ja, dass die Ohrringe nicht neu sind, und …«

»Sie lebt nicht mehr«, unterbrach Stig sie. »Und so schöne Dinge sollten von Menschen getragen werden, die leben.«

Martha blinzelte verwirrt. Dann dämmerte es ihr. »Sie haben … haben …« Sie sah zu ihm auf, aber ihr Blick war von Tränen verschleiert. »Deiner Mutter gehört?«

Sie schloss die Augen und spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Seine Hand an ihrer Wange, am Hals, am Nacken. Ihre freie Hand an der Seite seines Körpers. Sie wollte ihn wegschieben. Ihn an sich ziehen. Sie hatten sich längst geküsst, das wusste sie. Mindestens hundertmal, seit sie sich das erste Mal begegnet waren. Aber jetzt, da ihre Lippen sich berührten, war es anders, es durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag. Sie hielt die Augen geschlossen, spürte seine Lippen, so weich, seine Hände auf ihrem Rücken, seine Bartstoppeln, seinen Geruch, seinen Geschmack. Sie wollte es, wollte alles. Aber die Berührung hatte sie geweckt, sie aus dem wunderbaren Traum gerissen, in den sie geflohen war, weil alles, was sie dort tat, keine Konsequenzen hatte. Bis jetzt.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Ich muss gehen, Stig.«

Er ließ sie los, und sie drehte sich rasch um. Öffnete die Haustür. Blieb stehen, bevor sie ging. »Es war mein Fehler, Stig. Wir dürfen uns nicht wiedersehen, verstehst du? Nie.«