»Ich dachte, es waren zwei«, sagte Sylvester.
Bo schnaubte. »Sein Partner hat gleich klein beigegeben. War bereit zur Zusammenarbeit und zu Kompromissen, der hat die ganze Zeit nur auf den Knien gelegen und um Gnade gewinselt, man kennt diese Typen ja.«
»Klar«, sagte Sylvester. »Loser.«
»Nee«, sagte Bo. »Siegertypen. Leute mit Gespür für die Situation. Dieses Gespür hat ihn weitergebracht, als du glaubst. Aber genug. Lass uns das Haus durchsuchen.«
Sylvester zuckte mit den Schultern, stand auf und war bereits halb aus dem Raum, als er bemerkte, dass Bo ihm nicht folgte. Er drehte sich um und sah, dass Bo auf den Platz starrte, wo Sylvester gerade noch gesessen hatte. Die Truhe. Bo wandte sich ihm zu, legte den Zeigefinger auf die Lippen und zeigte auf die Truhe. Sylvester zückte seine Waffe und entsicherte sie. Er spürte, wie sich alle Sinne schärften, das Licht intensiver wurde, die Geräusche klarer. Seine Halsschlagader kribbelte. Bo trat links neben die Truhe, so dass Sylvester freie Schussbahn hatte. Sylvester legte beide Hände um den Schaft der Waffe und kam näher. Bo gab ihm zu verstehen, dass er die Truhe jetzt öffnen würde. Sylvester nickte.
Er hielt den Atem an – die Pistole auf die Truhe gerichtet –, als Bo die Fingerkuppen der linken Hand unter den Rand des Schlosses legte. Bo wartete eine Sekunde und lauschte. Dann klappte er den Deckel hoch.
Sylvester spürte den Widerstand des Abzugs am Zeigefinger.
»Verdammt«, flüsterte Bo.
Bis auf etwas Bettzeug war die Truhe leer.
Sie durchsuchten gemeinsam die anderen Räume, schalteten die Lampen an und aus, entdeckten aber nichts. Nicht das geringste Anzeichen, dass sich in der letzten Zeit überhaupt jemand im Haus befunden hatte. Zum Schluss gingen sie zurück ins Schlafzimmer, wo noch immer alles so war, wie sie es vorgefunden hatten.
»Du hast dich geirrt«, sagte Sylvester und sprach die vier Worte langsam und deutlich aus, weil er wusste, wie wütend sie Bo machen würden. »Er ist weg.«
Bo schüttelte sich, als säße sein Anzug nicht richtig. »Wenn der gegangen ist, ohne das Licht auszumachen, heißt das ja vielleicht, dass er gleich wieder zurückkommt. Und wenn wir dann bereit sind, sollten wir eigentlich leichtes Spiel haben.«
»Vielleicht«, sagte Sylvester. Er hatte ein Gefühl, wie diese Sache enden würde.
»Nestor will, dass wir uns den Typ so schnell wie möglich schnappen. Es steht viel auf dem Spiel.«
»Klar«, sagte Sylvester sauer.
»Also bleibst du heute Nacht hier und wartest ab, ob er zurückkommt.«
»Warum kriege immer ich die Scheißjobs?«
»Die Antwort beginnt mit A.«
Anciennität. Sylvester seufzte. Er wünschte sich einen neuen Partner. Einen mit weniger Anciennität. Wenn doch nur jemand diesen Bo abknallte.
»Am besten setzt du dich ins Wohnzimmer. Von da kannst du sowohl die Haustür sehen als auch die Tür, die in den Keller führt«, sagte Bo. »Es ist nicht sicher, dass der hier ebenso leicht zu liquidieren ist wie der Pastor.«
»Das hast du schon mal gesagt«, brummte Sylvester.
Markus sah, dass die beiden Männer das hell erleuchtete Schlafzimmer verließen. Gleich darauf kam der kleine Blonde aus dem Haus, setzte sich in den Wagen und fuhr davon. Der Sohn war noch immer irgendwo im Haus, aber wo? Vielleicht hatte er den Wagen wegfahren hören, aber wusste er dann auch, dass einer der Männer im Haus geblieben war?
Markus richtete das Fernrohr auf die dunklen Fenster, sah jedoch nichts. Der Sohn konnte das Haus natürlich auf der Rückseite verlassen haben, allerdings glaubte Markus nicht daran, sein Fenster hatte die ganze Zeit offen gestanden, und er hatte nichts gehört.
Markus bemerkte eine Bewegung und richtete das Fernrohr auf das Schlafzimmer, das noch immer der einzige hell erleuchtete Raum war. Er hatte tatsächlich recht gehabt.
Das Bett. Es bewegte sich. Oder besser gesagt, die Matratze. Sie wurde angehoben und zur Seite geschoben. Und da war er. Er musste sich irgendwo zwischen Lattenrost und der dicken weichen Doppelbettmatratze versteckt haben, auf der Markus so gerne lag. Nur gut, dass der Sohn so dünn war. Wäre er so dick, wie Mama glaubte, dass Markus einmal werden würde, hätten sie ihn gesehen. Der Sohn ging vorsichtig zu der losen Bodendiele, hob sie an und nahm etwas aus der roten Sporttasche. Markus stellte scharf. Konzentrierte sich. Und hielt den Atem an.
Sylvester hatte den Sessel so hingestellt, dass er die Haustür und das Gartentor sehen konnte, das im Lichtkegel einer Straßenlaterne lag. Aber durch den Kies würde er ohnehin hören, wenn sich draußen jemand näherte. Bo hatte er schließlich auch gehört, als der gegangen war.
Es konnte eine lange Nacht werden. Er musste etwas finden, das ihn wach hielt. Deshalb hatte er die Bücherregale durchstöbert und schließlich gefunden, was er gesucht hatte. Das Fotoalbum der Familie. Dann schaltete er eine Leselampe an, drehte sie vom Fenster weg, so dass man das Licht von draußen nicht sehen konnte, und begann zu blättern. Die Bilder erzählten die Geschichte einer glücklichen Familie. Überhaupt nicht so wie seine. Vielleicht hatten ihn die Familienalben der anderen deshalb immer so interessiert. Er liebte es, in die Rollen von Fremden zu schlüpfen und zu spüren, wie es auch sein konnte. Natürlich wusste er, dass diese Familienbilder nicht die ganze Wahrheit erzählten. Aber einen Teil davon bildeten sie schon ab. Sylvester blieb bei einem Bild hängen, das drei Personen zeigte, möglicherweise irgendwann in den Osterferien aufgenommen. Braungebrannt standen sie lächelnd irgendwo vor einer Steinpyramide. In der Mitte die Mutter. Links am Rand der Vater, dieser Ab Lofthus. Und rechts ein Mann mit rahmenloser Brille. »Die Troika und ich auf Tour, Fotograf Springer« stand mit weiblicher Handschrift unter dem Foto.
Sylvester hob den Kopf. Hatte er etwas gehört? Er sah nach draußen zum Gartentor, aber da war nichts. Das Geräusch war aber auch nicht von dort gekommen, und auch nicht aus dem Keller. Trotzdem hatte sich irgendetwas verändert, als wäre die Luft dichter geworden, als hätte das Dunkel Kontur angenommen. Das Dunkel. Seine Angst davor würde er wohl nie vollständig loswerden, dafür hatte sein Vater gesorgt. Sylvester konzentrierte sich wieder auf das Bild. Darauf, wie glücklich diese Menschen aussahen. Man musste ja auch keine Angst vor dem Dunkeln haben, das wusste doch jeder.
Es knallte wie Vaters Gürtel.
Sylvester starrte auf das Bild.
Es war plötzlich voller Blut, und am Rand war ein Loch, das durch das ganze Album ging. Etwas Weißes schwebte langsam auf das Blut und blieb daran hängen. Federn? Aus der Lehne des Sessels? Sylvester wurde klar, dass er unter Schock stehen musste, denn er spürte keine Schmerzen. Noch nicht. Er starrte auf die Pistole, die auf den Boden gefallen war und außerhalb seiner Reichweite lag, und wartete auf den nächsten Schuss. Aber der kam nicht. Vielleicht hielt der Mann ihn für tot. In diesem Fall hatte er eine Chance, wenn er mitspielte.
Sylvester schloss die Augen, hörte den anderen kommen und hielt den Atem an. Spürte eine Hand auf der Brust. Sie durchsuchte die Innenseite seiner Jacke, fand die Geldbörse und den Führerschein und nahm sie ihm ab. Dann spannten sich zwei Arme um seine Mitte, zogen ihn aus dem Sessel hoch und legten ihn über eine Schulter. Der Mann begann nun zu gehen. Er musste verdammt stark sein.
Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde. Licht wurde eingeschaltet, unsichere Schritte auf einer Treppe nach unten. Kalte Luft. Er trug ihn in den Keller.
Am Fuß der Treppe war plötzlich ein Geräusch wie von Saugnäpfen zu hören. Dann fiel Sylvester. Er landete weicher, als er es befürchtet hatte, und spürte einen Druck auf den Ohren, als es schlagartig wieder dunkel wurde. Er öffnete die Augen. Stockfinster. Er sah nichts, musste in irgendeiner Kiste liegen. Das Dunkel ist nicht gefährlich. Es gibt keine Monster. Er hörte Schritte, die sich entfernten, dann die Kellertür. Er war allein, der junge Mann hatte nichts bemerkt!