Jetzt musste er nur ruhig bleiben, nicht übereilt handeln. Warten, bis der Mann sich schlafen gelegt hatte. Dann konnte er verschwinden. Oder Bo anrufen und sie bitten, dass sie ihn holen kamen und den Mann erledigten. Das Merkwürdige war, dass er noch immer keine Schmerzen empfand, wohl aber das warme Blut spürte, das auf seine Hand tropfte. Allerdings war es kalt geworden, sehr kalt. Sylvester versuchte, die Beine zu bewegen, um sich so zu drehen, dass er das Handy aus der Tasche ziehen konnte, doch es gelang ihm nicht. Seine Beine mussten eingeschlafen sein. Er schaffte es aber trotzdem, die Hand in die Tasche zu stecken und das Telefon herauszuziehen. Als er es einschaltete, brachte das Display etwas Licht ins Dunkel. Wieder stockte Sylvester der Atem.
Das Monster lag direkt vor ihm und starrte ihn mit hervorquellenden Augen an. In dem geöffneten Maul blitzten kleine scharfe Zähne.
Ein Dorsch, dachte er. In Plastikfolie. Daneben andere Gefrierbeutel und ein paar Iglo-Packungen. Hähnchenbrüste, Steaks, Beeren. Die Eiskristalle an den schneeweißen Wänden, die ihn umgaben, reflektierten das Licht. Er lag in einer Gefriertruhe.
Markus starrte auf das Haus und zählte die Sekunden.
Er hatte das Fenster geöffnet, einen Knall im Haus gehört und im Wohnzimmer auch so etwas wie einen Lichtblitz gesehen. Dann war es wieder still geworden.
Markus war sich ziemlich sicher, dass es ein Pistolenschuss gewesen war, aber wer hatte geschossen?
Lieber Gott, lass es den Sohn sein, mach, dass er nicht erschossen wurde.
Er war bei hundert angekommen, als er die Tür des noch immer hell erleuchteten Schlafzimmers aufgehen sah.
Gott sei Dank! Er war es.
Der Sohn legte die Pistole zurück in die Sporttasche, entfernte die Bodendiele und stapelte dann Tüten mit weißem Pulver in die Tasche. Als er fertig war, hängte er sich die Tasche über die Schulter und ging aus dem Raum, ohne das Licht auszumachen.
Gleich darauf knallte die Haustür zu, und Markus sah den Sohn zum Gartentor gehen. Dort blieb er stehen, warf einen Blick nach rechts und links und verschwand dann in der Richtung, aus der Markus ihn am ersten Tag hatte kommen sehen.
Markus warf sich rücklings aufs Bett und starrte an die Decke. Er lebte! Er hatte den Bösen erschossen! Denn … es musste doch der Böse sein? Bestimmt war es so. Markus jubelte ausgelassen. In dieser Nacht würde er kein Auge zumachen, das wusste er ganz genau.
Sylvester hörte, wie oben die Haustür ins Schloss fiel. Die Gefriertruhe war zu dicht, um alle Geräusche durchzulassen, aber die Tür war derart hart zugeknallt worden, dass er sogar die Vibration gespürt hatte. Endlich. Das Handy hatte in der Truhe unten im Keller natürlich keinen Empfang, deshalb hatte er nach drei Versuchen aufgegeben anzurufen. Sylvester spürte jetzt auch Schmerzen und wurde zunehmend schläfrig. Aber die Kälte schien ihn irgendwie wach zu halten. Er stemmte die Handflächen gegen den Deckel und drückte. Spürte einen Anflug von Panik, als der nicht sofort aufging. Er drückte mit aller Kraft. Der Deckel rührte sich nicht. Sylvester erinnerte sich an das Schmatzen der Gummidichtungen, sie hatten sich verklebt, er musste also nur ein bisschen mehr Kraft aufwenden. Er presste die Hände gegen den Deckel und drückte, so fest er konnte, aber der Deckel rührte sich nicht. Und dann verstand er. Der Mann hatte die Kühltruhe abgeschlossen.
Dieses Mal war die Panik nicht bloß ein Kribbeln. Sie packte ihn mit einem Würgegriff.
Sylvester schnappte nach Luft, versuchte aber, einen klaren Kopf zu behalten, damit das Dunkel, das wirkliche Dunkel nicht über ihn kam. Er musste nachdenken. Eine Lösung finden.
Die Beine. Natürlich. In denen hatte er viel mehr Kraft als in den Armen. Mit den Beinen drückte er mehr als zweihundert Kilo, gegen knappe fünfundsiebzig mit den Armen. Und schließlich ging es nur um ein simples Tiefkühltruhenschloss, dafür gedacht, dass die Nachbarn sich nicht gegenseitig Fleisch und Moltebeeren klauen konnten, wenn die Truhe im Gemeinschaftskeller stand. Diese Schlösser waren nicht dafür gemacht, verzweifelte Männer zurückzuhalten, die rauswollten. Sylvester drehte sich auf den Rücken. Bis zum Deckel müsste Platz genug sein, um die Knie anzuwinkeln und die Füße dagegenzustemmen …
Aber er konnte die Beine nicht anwinkeln. Verdammt, waren die tief eingeschlafen. Er versuchte es noch einmal, aber sie reagierten nicht. Es fühlte sich an, als hätten sie sich komplett abgekoppelt. Er kratzte sich am Schenkel. Kniff in die Haut, und in seinem Kopf klickte es. Nachdenken. Nein, nicht nachdenken! Zu spät. Das Loch im Album. Das Blut. Die Kugel musste seinen Rücken durchschlagen haben. Die ausbleibenden Schmerzen. Sylvester legte sich die Hand auf den Bauch. Nass von Blut. Nur dass es sich so anfühlte, als würde er einen anderen anfassen.
Er war gelähmt.
Vom Bauch abwärts. Er trommelte mit den Händen gegen den Deckel über sich, aber damit lieferte er sich der Panik nur vollends aus. Dabei hatte er von seinem Vater gelernt, immer einen klaren Kopf zu behalten. Doch damit war es jetzt vorbei, plötzlich fiel alles in sich zusammen, und Sylvester gestand sich ein, dass er wie in seinen Alpträumen sterben würde. Eingesperrt. Allein. Im Dunkeln.
Kapitel 26
»Genau so sollte ein Sonntagmorgen sein«, sagte Else und sah aus dem Seitenfenster.
»Stimmt«, erwiderte Simon, schaltete herunter und sah sie an. Er fragte sich, wie viel sie wirklich mitbekam. Sah sie, wie grün der Schlosspark nach dem Regen war, oder hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie am Schloss vorbeigefahren waren?
Es war Elses Idee gewesen, die Chagall-Ausstellung in Høvikodden anzusehen, aber Simon hatte gleich zugestimmt. Er musste nur kurz bei einem früheren Kollegen in Skillebekk vorbei.
Auf dem Gamle Drammensveien gab es reichlich freie Parkplätze. Die altehrwürdigen Villen und noblen Apartmenthäuser waren in der Ferienzeit verwaist. Vor einigen Häusern flatterten Botschaftsflaggen im lauen Wind.
»Ich bleibe nicht lange«, sagte Simon, stieg aus und ging zu der Nummer, die er sich im Internet herausgesucht hatte. Der Name stand ganz oben neben den Klingelknöpfen.
Nach zweimaligem Klingeln wollte Simon schon aufgeben, als er plötzlich eine Frauenstimme hörte.
»Ja?«
»Ist Fredrik zu Hause?«
»Äh … wer fragt?«
»Simon Kefas.«
Es war ein paar Sekunden still, aber Simon hörte deutlich, dass eine Hand auf dem Mikro der Gegensprechanlage lag. Dann war die Stimme wieder da. »Er kommt runter.«
»Okay.«
Simon wartete. Es war noch früh, die normalen Menschen schliefen noch, nur ein Paar in seinem Alter war auf der Straße. Vermutlich machten sie ihren Sonntagsspaziergang. Der Mann trug eine Schiebermütze und khakifarbene Hosen unbekannter Herkunft. Typische Alte-Leute-Kleider. Simon sah sein Spiegelbild in der Scheibe der geschnitzten Eichentür. Schiebermütze und Sonnenbrille. Khakihosen. Sonntagsverkleidung.
Es dauerte, er musste Fredrik geweckt haben. Oder seine Frau. Oder wer auch immer sie war. Simon sah zum Auto, Else blickte gerade zu ihm herüber. Er winkte. Keine Reaktion. Die Tür ging auf.
Fredrik in Jeans und T-Shirt. Er hatte scheinbar noch geduscht. Die dichten, nassen Haare waren nach hinten gekämmt.
»Welch Überraschung«, sagte er. »Was …?«
»Machen wir einen kleinen Spaziergang?«
Fredrik sah auf seine schwere Armbanduhr. »Du, ich habe …«
»Nestor und seine Drogenbanditen haben mich besucht«, sagte Simon so laut, dass das alte Paar, das an ihnen vorbeiging, ihn hörte. »Aber wir können das auch oben in deiner Wohnung besprechen. Zusammen mit deiner … Frau?«
Fredrik musterte Simon. Dann schloss er die Tür hinter sich.
Sie gingen über den Bürgersteig. Das Klatschen von Fredriks Flip-Flops hallte zwischen den Häusern wider.
»Er hat mir den Kredit angeboten, über den ich mit dir gesprochen habe, Fredrik. Nur mit dir.«