»Ich habe mit keinem Nestor gesprochen.«
»Du musst gar nicht so tun, als würdest du den Namen nicht kennen. Was du sonst noch mit ihm zu tun hast, darfst du gerne für dich behalten.«
Fredrik blieb auf der Fußgängerbrücke stehen. »Jetzt hör mir mal zu, Simon. Dir intern diesen Kredit zu beschaffen ist vollkommen unmöglich. Also habe ich mit ein paar Leuten über dein Problem gesprochen. Das wolltest du doch? Oder?«
Simon antwortete nicht.
Fredrik seufzte. »Simon, ich habe das nur gemacht, um dir zu helfen. Du kannst ja noch immer nein sagen, wenn dir was angeboten wird. Das ist doch wohl das Schlimmste, was passieren kann.«
»Das Schlimmste ist«, sagte Simon, »dass dieser Abschaum nun glaubt, einen Weg gefunden zu haben, mich in die Hand zu bekommen. Nach all den Jahren. Denn bisher ist ihnen das nicht gelungen, Fredrik. Dich haben sie ja schon lange, mich aber nicht.«
Fredrik beugte sich über das Geländer. »Vielleicht ist gerade das dein Problem, Simon. Vielleicht hast du deshalb nie Karriere gemacht.«
»Weil ich mich nicht habe kaufen lassen?«
Fredrik lächelte. »Wegen deines Temperaments. Du hast keinerlei diplomatische Fähigkeiten und stößt sogar Menschen zurück, die dir helfen wollen.«
Simon sah nach unten auf die alte stillgelegte Eisenbahntrasse. Sie stammte aus der Zeit, als noch der Westbahnhof angefahren wurde. Er wusste nicht, warum, aber irgendwie machte es ihn melancholisch, aber auch froh, dass die alte Trasse noch zu erkennen war. »Du hast in der Zeitung bestimmt von diesem Dreifachmord in Gamlebyen gelesen?«
»Natürlich«, sagte Fredrik. »Die Zeitungen schreiben ja über nichts anderes. So wie es aussieht, ist das ganze Kriminalamt auf den Beinen. Lassen die euch mitspielen?«
»Die lassen sich nicht gerne in die Karten schauen. Nein, da hat sich nichts geändert. Aber einer der Toten war Kalle Farrisen. Kommt dir der Name bekannt vor?«
»Nein, ich glaube nicht. Aber wenn das Morddezernat nicht ermittelt, warum willst du …?«
»Weil Farrisen seinerzeit verdächtigt worden ist, dieses Mädchen getötet zu haben.« Simon gab Fredrik die Kopie des Fotos aus dem Polizeibericht und beobachtete, wie sein Gegenüber die blassen asiatischen Züge des Mädchens studierte. Man musste den Rest des Körpers nicht sehen, um zu erkennen, dass sie tot war.
»In einem Hinterhof gefunden, es sollte nach einer Überdosis aussehen. Fünfzehn Jahre, maximal sechzehn. Es gab keine Papiere, so dass wir nie ermitteln konnten, wer sie war oder woher sie kam. Geschweige denn, über welche Wege sie ins Land gekommen ist. Vielleicht in einem Container auf einem Schiff aus Vietnam. Rausgefunden haben sie nur, dass sie schwanger war.«
»Doch, warte, an den Fall erinnere ich mich. Gab es da nicht ein Geständnis?«
»Ja, ziemlich spät und für alle komplett überraschend. Von dir will ich wissen, ob es eine Verbindung gibt zwischen Kalle und deinem guten Kunden Iversen?«
Fredrik zuckte mit den Schultern. Sah über den Fjord. Schüttelte den Kopf. Simon folgte seinem Blick zu dem Gewirr der Masten im Yachthafen.
»Weißt du eigentlich, dass der Mann, der damals gestanden hat und für den Mord verurteilt wurde, aus dem Gefängnis ausgebrochen ist?«
Fredrik schüttelte erneut den Kopf.
»Genieß dein Frühstück«, sagte Simon.
Simon lehnte am geschwungenen Garderobentresen der Kunstgalerie in Høvikodden. Alles war hier geschwungen, alles war hier modern. Sogar die Glaswände, die die einzelnen Räume trennten, waren leicht gebogen und vermutlich hip. Er musterte Else, die einen Chagall studierte. Sie wirkte so klein. Kleiner als Chagalls Figuren. Aber vielleicht lag das auch an den geschwungenen Bögen, vielleicht schufen sie einen Ames-Raum und waren der Grund für die optische Täuschung.
»Sie sind zu diesem Fredrik gegangen, bloß um ihm diese eine Frage zu stellen?«, fragte Kari, die neben ihm stand. Sie war innerhalb von zwanzig Minuten da gewesen. »Und Sie wollen sagen, dass …«
»Mir war vorher schon klar, dass er nein sagen würde«, antwortete Simon. »Aber ich musste ihn sehen, um zu wissen, ob er lügt.«
»Sie wissen doch, dass es verdammt schwer ist, jemandem anzusehen, ob er lügt – auch wenn einige Fernsehsendungen das Gegenteil behaupten?«
»Schon, aber Fredrik ist für mich nicht irgendjemand. Ich weiß, wie es sich anhört, wenn er lügt. Ich bin darauf trainiert, ich kenne sein Muster.«
»Dann ist Fredrik Ansgar ein notorischer Lügner?«
»Nein, Lügen ist für ihn eine Notwendigkeit, kein Vergnügen.«
»Ach? Und woher wissen Sie das?«
»Ich habe das erst erkannt, als wir in einem richtig dicken Immobilienfall ermittelten. Damals im Dezernat für Wirtschaftskriminalität.« Er sah, wie Else sich etwas verloren umsah, und räusperte sich laut, damit sie sich orientieren konnte und wusste, wo er war. »Es war schwer zu beweisen, dass Fredrik log«, fuhr Simon fort. »Er war unser einziger Buchhaltungsexperte in dem Fall, und wir konnten unmöglich alles überprüfen, was er sagte. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten und Zufälle, in der Summe fiel es dann aber doch auf. Er hat uns über bestimmte Dinge einfach nicht informiert und manchmal auch richtiggehend in die Irre geführt. Ich war der Einzige, der damals misstrauisch wurde. Und irgendwann konnte ich sehen, wann er uns die nächste Lüge auftischte.«
»Wie das?«
»Im Grunde sehr einfach. Seine Stimme verändert sich.«
»Seine Stimme?«
»Lügen löst bestimmte Gefühle aus. Fredrik war perfekt, was Wortwahl, Logik und Körpersprache anging, aber seine Stimme als Gefühlsbarometer hatte er nicht unter Kontrolle. Der Tonfall stimmte nicht, er unterstrich die Lüge. Fredrik hörte das selbst und wusste, dass ihn das zu Fall bringen konnte. Deshalb traute er seiner Stimme nicht einmal, wenn man ihm eine direkte Frage stellte, die er bloß mit Ja oder Nein beantworten musste, sondern nickte oder schüttelte den Kopf.«
»Und Sie haben ihn nach einer Verbindung zwischen Kalle Farrisen und Iversen gefragt?«
»Ja, und er hat mit den Schultern gezuckt, als wüsste er nichts.«
»Eine Lüge also.«
»Ja, und als ich ihn gefragt habe, ob er wisse, dass Sonny Lofthus ausgebrochen ist, schüttelte er den Kopf.«
»Ist das nicht ein bisschen zu einfach?«
»Ja, aber Fredrik ist ein einfacher Mann, nur beherrscht er sein Einmaleins etwas besser als die meisten anderen. Hören Sie, überprüfen Sie alle Urteile gegen Sonny Lofthus und versuchen Sie herauszufinden, ob es in den einzelnen Fällen andere Verdächtige gegeben hat.«
Kari Adel nickte. »Gut, ich hatte dieses Wochenende ohnehin noch nichts vor.«
Simon lächelte.
»Dieser Fall im Wirtschaftsdezernat. Worum ging es da genau?«
»Betrug«, sagte Simon. »Steuerhinterziehung im großen Stil. Richtig viel Geld und prominente Namen. So wie die Angelegenheit stand, hätten dadurch einige profilierte Wirtschaftsgrößen und Politiker zu Fall gebracht und wir tatsächlich auf die Spur des großen Hintermannes geführt werden können.«
»Der wäre?«
»Der Zwilling.«
Kari schien ein Schauer über den Rücken zu laufen. »Wirklich ein seltsamer Spitzname.«
»Nicht so seltsam wie die Geschichte dahinter.«
»Kennen Sie seinen richtigen Namen?«
Simon schüttelte den Kopf. »Es kursieren mehrere Namen. So viele, dass er eigentlich schon wieder anonym ist. Als ich im Wirtschaftsdezernat anfing, glaubte ich in meiner Naivität, dass die dicksten Fische diejenigen sind, die man am besten sieht. In Wahrheit ist Sichtbarkeit aber umgekehrt proportional zur Größe und Bedeutung der jeweiligen Person. Deshalb ist uns der Zwilling auch damals entwischt. Wegen Fredriks Lügen.«
Kari nickte langsam. »Glauben Sie, dass Fredrik Ansgar der Maulwurf war?«
Simon schüttelte entschieden den Kopf. »Damals war Fredrik noch gar nicht bei der Polizei. Er war wohl nur ein kleines Rädchen im Getriebe, hätte aber wirklich großen Schaden anrichten können, wäre er in der gleichen Position geblieben. Aber ich habe ihn gestoppt.«