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»Übrigens, da hat sich jemand nach dir erkundigt.«

Per blieb stehen. »Wer?«

»Ich hab nicht gefragt. Könnten aber Polizisten gewesen sein.«

»Wie kommst du darauf?«

»Die schienen dich wirklich dringend sprechen zu wollen, deshalb dachte ich, es geht vielleicht um einen Häftling, den du kennst.«

Die hatten es aber eilig, dachte Per. »Martha? Glaubst du eigentlich an etwas?«

Sie drehte sich auf der Treppe um und lächelte, und Per kam in den Sinn, dass man sich als junger Mann in dieses Lächeln Hals über Kopf verlieben konnte.

»Wie Gott oder Jesus?«, fragte Martha. Auf dem Flur griff sie nach dem Türpfosten und schwang sich in die angrenzende Rezeption, nahm hinter dem Tisch Platz und schaute Per durch die offene Klappe an.

»Oder das Schicksal. Zufälle oder kosmische Schwerkraft.«

»Ich glaube an die irre Greta«, murmelte Martha und blätterte ihre Papiere durch.

»Geister gibt es nicht …«

»Inger hat gesagt, dass sie in der Nacht wieder das Kinderweinen gehört hat.«

»Inger ist eine empfindsame Seele, Martha.«

Sie steckte den Kopf durch die Klappe. »Wir müssen noch über etwas anderes sprechen, Per …«

Er seufzte. »Ich weiß, es ist voll hier und …«

»Die Renovierung nach dem Brand kommt nur langsam voran, und mehr als vierzig Bewohner leben noch immer in Doppelzimmern. Auf lange Sicht geht das nicht. Die beklauen sich gegenseitig, und das endet dann immer in Schlägereien. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einer den anderen absticht.«

»Ist schon okay, ich bleibe nicht mehr lange.«

Martha neigte den Kopf zur Seite und sah ihn nachdenklich an. »Warum will sie dich eigentlich nicht mehr zu Hause haben? Ihr wart doch so lange verheiratet. Vierzig Jahre, oder?«

»Achtunddreißig. Es ist ihr Haus und … ach, das ist kompliziert.« Per lächelte müde.

Er ließ sie stehen und ging über den Flur zu seinem Zimmer. Hinter zwei Türen dröhnte Musik. Amphetamin. Es war Montag, die Sozialämter waren nach dem Wochenende wieder geöffnet, und das brachte gewisse Möglichkeiten mit sich. Er schloss seine Tür auf. Der heruntergekommene kleine Raum, mit Platz für ein Bett und einen Kleiderschrank, kostete sechstausend im Monat. Außerhalb von Oslo konnte man für diese Summe ganze Wohnungen mieten.

Er setzte sich auf das Bett und starrte durch das verdreckte Fenster nach draußen. Der Verkehr brummte einschläfernd. Die Sonne fiel durch die dünnen Gardinen, und im Fensterrahmen kämpfte eine Fliege um ihr Leben. Sie würde bald sterben. So war es nun einmal. Nicht der Tod, sondern das Leben. Der Tod war nichts. Wann war ihm das erste Mal klargeworden, dass all das, was er immer predigte, nur ein Bollwerk der Menschen gegen ihre Todesangst war? Aber das hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Denn das, was Menschen zu wissen glaubten, war nichts im Vergleich zu dem, was sie glauben wollten, um Angst und Schmerzen im Zaum zu halten. Vollan glaubte an einen Gott der Vergebung und an ein Leben nach dem Tod. Er glaubte mehr dar­an als jemals zuvor.

Er zog einen Block unter einer Zeitung hervor und begann zu schreiben.

Viel brauchte Per Vollan nicht zu notieren. Ein paar Sätze auf einem Zettel reichten. Er strich seinen Namen auf dem gebrauchten Umschlag durch. Der Brief von Almas Anwalt, in dem sie kurz skizziert hatten, was Per aus ihrer Sicht aus dem gemein­samen Haushalt zustand. Die Liste war nicht lang gewesen.

Der Gefängnispastor warf einen Blick in den Spiegel, rückte den Pastorenkragen zurecht, nahm den langen Mantel aus dem Schrank und ging.

Martha war nicht an der Rezeption. Inger nahm den Umschlag entgegen und versprach, ihn ihr zu geben.

Die Sonne stand tiefer am Himmel, der Tag ging seinem Ende entgegen. Vollan lief durch den Park und registrierte aus den ­Augenwinkeln, dass jeder seine Rolle spielte. Fast bis zur Perfektion. Niemand stand zu schnell von einer Bank auf, nachdem er vorbei war, und es fuhren auch keine Autos vom Straßenrand los, als er ganz gegen seine Gewohnheit über die Sannergata hin­unter zum Fluss ging. Aber sie waren da. In dem Fenster, das den friedlichen Sommerabend spiegelte, in dem gleichgültigen Blick eines Passanten, in der Kälte der Schatten, die auf der Ostseite der Häuser emporkrochen, das Sonnenlicht vertrieben und neues Territorium eroberten. Per Vollan dachte, dass sein ganzes Leben ein immerwährender Kampf zwischen Hell und Dunkel gewesen war, aus dem nie ein Sieger hervorgegangen war. Oder doch? Hatte das Dunkel nicht mit jedem Tag etwas mehr die Oberhand gewonnen?

Sie waren auf dem Weg in die lange Nacht.

Er beschleunigte seine Schritte.

Kapitel 4

Simon Kefas führte die Kaffeetasse zum Mund. Vom Küchentisch aus blickte er in den kleinen Garten vor dem Haus im Fagerliveien in Disen. In der Nacht hatte es geregnet, und das Gras glänzte in der Morgensonne. Er glaubte fast, es wachsen sehen zu können. Bald schon würde er wieder den Rasenmäher hervorholen. Dieses alte, mechanische Teil, das einem jedes Mal aufs Neue die Laune vermieste und den Schweiß auf die Stirn trieb. Aber sei’s drum. Else hatte ihn gefragt, warum er nicht wie die Nachbarn einen elektrischen Rasenmäher kaufte. Seine Antwort war simpel gewesen: Diese Dinger kosteten Geld. Ein Argument, mit dem in seiner Kindheit und Jugend die meisten Auseinandersetzungen entschieden worden waren, in diesem Haus und im ganzen Viertel. Doch damals hatten hier auch noch normale Leute gewohnt. Lehrer, Friseure, Taxifahrer, Angestellte im Öffentlichen Dienst. Oder Polizisten, wie er selbst. Nicht, dass die Leute heute nicht normal waren, aber sie arbeiteten in der Werbung, waren IT-Spezialisten, Journalisten, Ärzte, hatten Agen­turen für die seltsamsten Sachen oder so viel Geld geerbt, dass sie sich eines der kleinen idyllischen Häuschen leisten und die Preise damit noch weiter in die Höhe treiben konnten. Das Viertel war dadurch auf der sozialen Rangliste deutlich gestiegen.

»An was denkst du?«, fragte Else, die hinter ihn getreten war und ihm über die Haare strich. Dünner waren sie geworden, und bei ungünstigem Licht schimmerte manchmal sogar die Kopfhaut durch. Else behauptete aber, das zu mögen. Es gefiel ihr, dass er der war, der er war, und auch äußerlich dazu stand: ein bald pensionierter Polizist. Auch sie würde älter werden, seinen Vorsprung von mehr als zwanzig Jahren allerdings nie einholen. Einer der neu hinzugezogenen Nachbarn, ein halbprominenter Filmproduzent, hatte geglaubt, sie wäre Simons Tochter. Na klasse.

»Ich denke darüber nach, was ich für ein Glück habe«, sagte er. »Mit dir. Mit dem hier.«

Sie küsste ihn mitten auf den Kopf, und er spürte ihre Lippen auf seiner Kopfhaut. In der letzten Nacht hatte er geträumt, er könnte ihr sein Augenlicht schenken. Und als er wach geworden war und nichts gesehen hatte, war er eine Sekunde lang ein glücklicher Mann gewesen. Dann war ihm klargeworden, dass er noch die Schlafbrille trug, die er in den hellen Sommernächten immer aufsetzte.

Es klingelte.

»Das ist Edith«, sagte Else. »Ich gehe mich umziehen.«

Sie öffnete ihrer Schwester und verschwand nach oben.

»Hallo, Onkel Simon!«

»He, wer kommt denn da?«, sagte Simon und sah in das vor Erwartung strahlende Gesicht eines Jungen.

Edith kam in die Küche. »Tut mir leid, Simon, aber er hat mich so bedrängt, ein bisschen früher zu kommen, damit er noch Zeit hat, deine Mütze aufzusetzen.«

»Klar«, sagte Simon. »Aber solltest du heute nicht in der Schule sein, Mats?«

»Planungskonferenz«, seufzte Edith. »Die haben ja keine Ahnung, was das für eine alleinerziehende Mutter dann wieder bedeutet.«

»Umso netter von dir, dass du angeboten hast, Else zu fahren.«

»Das ist doch wohl das mindeste. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist er ja nur heute und morgen in Oslo.«

»Wer?«, fragte Mats und zerrte am Arm seines Onkels, damit dieser endlich aufstand.

»Ein amerikanischer Arzt, der sich sehr gut mit Augen auskennt«, sagte Simon und tat beim Aufstehen so, als wäre er noch steifer, als er es in Wirklichkeit war. »Komm, dann gucken wir mal, ob wir hier irgendwo eine richtige Polizeimütze finden. Nimmst du dir einen Kaffee, Edith?«