»Dann richtet sich der Verdacht bei beiden Morden, für die Sonny Lofthus verurteilt wurde, eigentlich aufs Drogenmilieu. Sie meinen, er ist so etwas wie ein professioneller Sündenbock?«
»Sie nicht?«
»Vielleicht. Aber wir haben nach wie vor nichts, was ihn mit Farrisen oder Agnete Iversen in Verbindung bringt.«
»Es gibt noch einen dritten Mord«, sagte Kari. »Eva Morsand.«
»Die Reedersfrau?«, fragte Simon und dachte an einen Kaffee. »Polizeidistrikt Buskerud.«
»Stimmt. Der wurde die Schädeldecke abgetrennt. Sonny Lofthus stand auch da unter Verdacht.«
»Da muss ein Fehler vorliegen. Er saß doch ein, als das geschehen ist.«
»Nein, er hatte Freigang. Befand sich in der Nähe des Tatorts. Es wurden sogar Haare von ihm am Tatort gefunden.«
»Sie machen Witze«, sagte Simon und vergaß den Kaffee. »Das hätte doch in der Zeitung gestanden. Verurteilter Mörder schlägt wieder zu. Die Presse hätte sich mit Wonne auf so was gestürzt.«
»Der Ermittlungsleiter in Buskerud zog es vor, das nicht an die große Glocke zu hängen«, sagte Kari.
»Warum?«
»Fragen Sie ihn selbst.«
Kari streckte den Arm aus, und Simon bemerkte einen großgewachsenen, breiten Mann, der ihnen mit einem Becher in der Hand vom Kaffeeautomaten entgegenkam. Trotz der sommerlichen Temperaturen trug er einen dicken Wollpullover.
»Henrik Westad«, sagte der Mann und streckte Simon die Hand entgegen. »Hauptkommissar beim Polizeidistrikt Buskerud. Wir sind für den Fall Eva Morsand zuständig.«
»Ich habe ihn gebeten, heute früh für ein Gespräch zu uns zu kommen«, sagte Kari.
»Von Drammen? Und das während der Rushhour?«, fragte Simon und ergriff Westads Hand. »Herzlichen Dank.«
»Vor der Rushhour«, sagte Westad. »Wir sitzen hier schon seit halb sieben. Eigentlich dachte ich, dass es über die Ermittlungen nicht viel zu sagen gäbe, aber Ihre Kollegin ist wirklich gründlich.« Er nickte Kari zu und nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz.
»Warum haben Sie nicht bekanntgegeben, dass Sie am Tatort Haare eines Vorbestraften gefunden haben?«, fragte Simon und sah neidisch auf den Becher, den der andere an die Lippen setzte. »Das ist doch beinahe schon die Lösung des Falls. Sonst hält die Polizei gute Nachrichten doch nicht zurück?«
»Stimmt alles«, sagte Westad. »Besonders wenn der Besitzer des Haares beim ersten Verhör sogar gestanden hat.«
»Und was ist dann passiert?«
»Leif.«
»Leif?«
Westad nickte langsam. »Ich hätte natürlich nach dem ersten Verhör bekanntgeben können, was wir hatten, aber es gab da ein paar Sachen bei ihm, die nicht ins Bild passten. Seine … Einstellung. Also habe ich gewartet. Und beim zweiten Verhör hat er sein Geständnis widerrufen und behauptet, ein Alibi zu haben. Ein Typ namens Leif mit einem Drammen-Sticker auf einem blauen Volvo. Aus irgendeinem Grund hielt er Leif für akut herzkrank. Ich habe daraufhin alle Volvo-Kunden in Drammen mit der Herzabteilung des Buskeruder Zentralklinikums abgeglichen.«
»Und?«
»Leif Krognæss, dreiundfünfzig Jahre. Er wohnt im Stadtteil Konnerud in Drammen und hat ihn sofort wiedererkannt, als ich ihm ein Bild gezeigt habe. Er war ihm auf einem Rastplatz an der alten Bundesstraße begegnet, die parallel zum Drammensveien verläuft. Sie wissen schon, so ein Platz mit Bänken und Tischen, wo man die Natur genießen kann. Leif Krognæss hatte eine Spritztour durch die Sonne gemacht und war dann ein paar Stunden lang auf diesem Rastplatz sitzen geblieben, weil er so seltsam müde war. Anscheinend ist da sonst nie jemand, der Verkehr geht ja fast ausschließlich über die neue Straße. Außerdem ist das ein Mückenloch. Aber wie dem auch sei, an diesem Tag saßen noch zwei Menschen an einem anderen Tisch. Sie sollen einfach nur dagesessen haben, ohne miteinander zu reden. Stundenlang. Dann soll der eine auf die Uhr gesehen und gesagt haben, jetzt könnten sie gehen. Als sie an Leifs Tisch vorbeikamen, fragte einer der beiden ihn nach seinem Namen und sagte, er solle zum Arzt gehen, mit seinem Herzen sei etwas nicht in Ordnung. Dann sei der aber von dem anderen weggezogen worden, so dass Leif dachte, es könnte sich um einen Patienten aus der Psychiatrie handeln, der Ausgang bekommen hatte. Danach sollen die beiden weggefahren sein.«
»Aber ganz spurlos ist das Gespräch an diesem Leif nicht vorbeigegangen«, sagte Kari. »Er ist tatsächlich zum Arzt gegangen, der seinen Herzfehler bestätigt und ihn sofort eingeliefert hat. Das ist auch der Grund, weshalb sich Leif so gut an den Typ erinnerte, mit dem er auf dem Rastplatz am Drammenselva gerade mal ein paar Worte gewechselt hatte.«
»Genau«, sagte Westad. »Leif Krognæss sagte, dieser Mann habe ihm das Leben gerettet. Aber darum geht es nicht. Entscheidend ist, dass aus dem Bericht der Rechtsmedizin hervorgeht, dass Eva Morsand genau zu der Zeit umgebracht worden ist, als die beiden auf dem Rastplatz saßen.«
Simon nickte. »Und das Haar? Haben Sie nicht überprüft, wie das an den Tatort gelangen konnte?«
Westad zuckte mit den Schultern. »Der Verdächtige hat ein Alibi.«
Simon fiel auf, dass Westad noch nicht den Namen des Mannes genannt hatte. Er räusperte sich: »Es könnte also sein, dass das Haar dort platziert worden ist. Und wenn der Freigang arrangiert wurde, damit Sonny Lofthus als der Schuldige in Frage kommt, müssen an dieser Sache auch Gefängnisbedienstete des Staten beteiligt sein. Haben Sie das deshalb noch nicht an die große Glocke gehängt?«
Henrik Westad schob den Becher ein Stück über Karis Schreibtisch. Der Kaffee schien ihm nicht mehr zu schmecken. »Ich habe den Befehl erhalten, den Mund zu halten«, sagte er. »Mein Chef hatte allem Anschein nach von weiter oben die Order, das erst einmal auf sich beruhen zu lassen, vermutlich sollten irgendwelche internen Ermittlungen angestellt werden.«
»Sie wollten die Fakten unter Kontrolle haben, bevor der Skandal an die Öffentlichkeit kommt«, sagte Kari.
»Hoffen wir, dass es sich wirklich so verhält«, sagte Simon leise. »Aber warum erzählen Sie uns das, wenn Sie doch den Befehl erhalten haben, den Mund zu halten, Westad?«
Westad zuckte wieder mit den Schultern. »Es ist hart, der Einzige zu sein, der Bescheid weiß. Und als Kari mir gesagt hat, dass sie mit Simon Kefas zusammenarbeitet … nun, Ihnen eilt der Ruf voraus, ein integrer Mensch zu sein.«
Simon sah zu Westad. »Sie wissen, dass das nur ein anderes Wort für Unruhestifter ist?«
»Ja«, sagte Westad. »Ich will keinen Ärger. Ich will aber auch nicht der Einzige sein, der Bescheid weiß.«
»Weil Sie sich dann sicherer fühlen?«
Westad zuckte zum dritten Mal mit den Schultern. Im Sitzen wirkte er nicht mehr so groß und breit. Und trotz des Pullovers schien er zu frieren.
In dem länglichen Sitzungsraum war es vollkommen still.
Hugo Nestors Blick war auf den Stuhl am Ende des Tisches geheftet.
Die hohe Rückenlehne aus weißem Büffelleder wirkte abweisend.
Der Mann auf dem Stuhl hatte um eine Erklärung gebeten.
Nestor hob den Blick und betrachtete das Gemälde, das an der Wand über dem Stuhl hing. Es zeigte eine Kreuzigung. Grotesk, blutig und übertrieben detailreich. Der Mann am Kreuz hatte zwei Hörner auf der Stirn und rotglühende Augen. Abgesehen davon war die Ähnlichkeit unverkennbar. Ein Gerücht besagte, der Künstler habe das Bild gemalt, nachdem der Mann hinter der Stuhllehne ihm zwei Finger abgetrennt hatte, weil er seine Schulden nicht bezahlt hatte. Das mit den Fingern stimmte, Nestor war selbst dabei gewesen. Das Gerücht besagte weiter, dass es der Mann auf dem Stuhl, nur zwölf Stunden nachdem der Künstler das Bild in seiner Galerie ausgestellt hatte, beschlagnahmen ließ. Das Bild und die Leber des Malers. Aber dieses Gerücht stimmte nicht. Es waren nur acht Stunden gewesen, und sie hatten die Milz genommen.
Was das Büffelleder anging, so konnte Nestor weder bestätigen noch berichtigen, dass der Mann hinter der Lehne dreizehntausendfünfhundert Dollar bezahlt hatte, um einen weißen Büffel, das heilige Tier der Lakota-Sioux, jagen und töten zu dürfen. Oder dass mit einer Armbrust gejagt worden war, die zwei Treffer in der Herzgegend aber nicht tödlich gewesen waren, so dass der Mann auf dem Stuhl sich schließlich rittlings auf das Tier gesetzt und ihm mit seinen Beinmuskeln den Hals gebrochen hatte. Nestor sah jedoch keinen Grund, dieses Gerücht anzuzweifeln. Der Gewichtsunterschied zwischen dem Tier und dem Mann konnte nicht sonderlich groß sein.