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Hugo Nestor wandte den Blick von dem Gemälde ab. Neben ihm und dem Mann auf dem Büffellederstuhl waren noch drei andere Personen im Raum. Nestor hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und spürte, wie unter seiner Anzugjacke der Stoff des Hemdes am Rücken klebte. Er schwitzte selten. Nicht nur, weil er die Sonne, dicke Wolle, Training, Liebe oder andere physische Anstrengungen mied, sondern weil er, seinem Arzt zufolge, ein defektes körpereigenes Thermostat hatte, das bei anderen Menschen das Schwitzen auslöste. Nestor schwitzte nicht einmal bei Anstrengungen. Stattdessen lief er Gefahr, dass sein Körper sich überhitzte. Ein vererbtes Defizit, das bewies, was er schon immer gewusst hatte: Die Menschen, die sich für seine Eltern ausgaben, waren nicht seine Eltern. Die Träume von der Wiege in einer Stadt, die wie Kiew in den Siebzigern aussah, waren keine Träume, sondern frühste Kindheitserinnerungen.

Aber jetzt schwitzte er. Und das, obwohl er gute Neuigkeiten hatte.

Der Mann auf dem Stuhl hatte nicht die Kontrolle verloren. War wegen der Drogen und des Geldes, die aus Kalle Farrisens Büro verschwunden waren, nicht ausgerastet. Und er hatte auch nicht herumgebrüllt und Rechenschaft verlangt, warum Sylvester verschwunden und dieser Lofthus noch immer nicht in ihrer Gewalt war. Schließlich wussten sie doch alle, was auf dem Spiel stand. Es gab vier Szenarien, und drei davon waren schlecht. Schlechtes Szenario Nummer eins: Sonny hatte Agnete Iversen, Kalle und Sylvester getötet und würde auch all die anderen Partner, mit denen Nestor zusammengearbeitet hatte, ermorden. Szenario zwei: Sonny wurde festgenommen, gestand und sagte aus, wer hinter den Morden stand, für die er gebüßt hatte. Szenario drei: Ohne das Geständnis des Jungen wurde Yngve Morsand für den Mord an seiner Frau festgenommen, hielt dem Druck nicht stand und packte aus.

Als Morsand mit dem Wunsch zu ihnen gekommen war, seine untreue Frau zu ermorden, war Nestor zuerst davon ausgegangen, dass ein Killer beauftragt werden sollte. Morsand hatte dann aber darauf bestanden, die Tat selbst zu begehen. Nur sollte alles so arrangiert werden, dass jemand anderes die Schuld auf sich nehmen konnte. Als gehörnter Ehemann war er ja ohnehin der erste Verdächtige der Polizei. Und man konnte doch alles kaufen, wenn der Preis nur attraktiv genug war. In diesem Fall drei Millionen Kronen. Ein guter Stundenlohn für eine lebenslange Haftstrafe, hatte Nestor argumentiert, und Morsand war schließlich darauf eingegangen. Als Morsand ihm dann erläutert hatte, wie er das Luder fesseln, ihr die Säge an die Stirn setzen und ihr in die Augen schauen wollte, während er ihr den Schädel aufsägte, hatte Nestor gespürt, wie sich ihm die Haare am Rücken vor Abscheu und Erregung aufstellten. Sie hatten alles mit Arild Franck koordiniert. Den Freigang von Sonny, wo er sich aufhalten musste und welcher von Francks Vertrauten ihn begleiten sollte. Die Wahl war auf den ebenso korrupten wie gutbezahlten chubby chaser aus Kaupang gefallen, der sein Geld für Kokain, die Begleichung seiner Schulden und für Huren ausgab, die fett und hässlich waren. Eigentlich hätten die selbst dafür bezahlen müssen, dass sich jemand mit ihnen abgab.

Das vierte und einzig gute Szenario war einfach: Finde den Jungen und mach ihn kalt. Das heißt, eigentlich sollte es einfach sein – und längst erledigt.

Trotzdem redete der Mann mit ruhiger, tiefer Flüsterstimme. Und genau diese Stimme hatte Nestor den Schweiß auf die Stirn getrieben, denn sie wollte eine Erklärung von ihm. Mehr nicht. Eine Erklärung. Nestor räusperte sich und hoffte, dass seine Stimme nicht die Angst verriet, die er immer spürte, wenn er mit dem Großen in einem Raum war.

»Wir waren noch einmal im Haus und haben nach Sylvester gesucht. Gefunden haben wir aber nur einen leeren Sessel mit einem Einschussloch in der Lehne. Wir haben unseren Kontaktmann bei Telenor gefragt, aber keine ihrer Basisstationen hat seit dieser Nacht Signale von Sylvesters Handy empfangen. Lofthus hat Sylvesters Telefon also entweder komplett demontiert, oder es befindet sich an einem Ort ohne Empfang. Auf jeden Fall fürchte ich, dass Sylvester nicht mehr am Leben ist.«

Der Stuhl am Ende des Tisches drehte sich langsam, und der Mann kam zum Vorschein. Wirklich ein Abbild der Person oben auf dem Gemälde. Die gewaltige Größe, die Muskeln, die sich von innen gegen den Stoff des Anzugs pressten, die hohe Stirn, der längst außer Mode gekommene Schnurrbart und die kräftigen Augenbrauen über dem so in die Irre führenden, schläfrigen Blick. Hugo Nestor versuchte nun, diesem Blick zu begegnen. Nestor hatte Frauen, Männer und Kinder getötet und ihnen dabei in die Augen gesehen, und er hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Stattdessen hatte er sie beobachtet, um in ihren Blicken die Angst vor dem Tod zu finden, die Gewissheit über das Unausweichliche, die Einsicht, die Sterbende auf der Schwelle zum Jenseits haben sollten. Wie dieses weißrussische Mädchen, dem er die Kehle durchgeschnitten hatte, weil der andere keinen Mumm gehabt hatte. Als er ihren flehenden Blick sah, war er beinahe high geworden durch diese Mischung aus den eigenen Gefühlen, der Wut über die Schwäche des anderen und der stillen Kapitulation des Mädchens. Es erregte ihn, ein Leben in seinen Händen zu halten und darüber zu bestimmen, wann es zu Ende sein sollte. Er konnte sie noch eine oder zwei Sekunden am Leben lassen, oder auch nicht. Das alles war einzig und allein seine Entscheidung. Ihm war irgendwie klar, dass das der sexuellen Erregung am nächsten kam, von der andere Menschen ­redeten, die bei ihm aber nicht mehr war als der beklemmende, ebenso unangenehme wie peinliche Versuch, normal zu wirken. Irgendwo hatte er gelesen, dass unter hundert Menschen ein Asexueller war. Er war eine Ausnahme, deshalb aber noch lange nicht unnormal. Im Gegenteil, er konnte sich so auf das konzentrieren, was er wollte, sein Leben aufbauen, sich einen Namen machen, konnte sich Respekt verschaffen und die Furcht seiner Untergebenen genießen, ohne sich von dem Energieverlust schwächen und ablenken zu lassen, den die sexuelle Narkomanie gewöhnlich mit sich brachte. War das nicht rational und folglich normal? Er war ein normaler Mensch, der den Tod nicht fürchtete, sondern eher neugierig darauf war.

Aber er hatte auch gute Nachrichten für den Großen. Trotzdem schaffte Nestor es nur fünf Sekunden, dem Blick des anderen standzuhalten, denn was er darin sah, war kälter und leerer als Tod und Vernichtung. Es war Verdammnis. Das Versprechen, dass dir deine Seele genommen würde.

»Aber wir haben einen Tipp bekommen, wo Lofthus sich befinden könnte«, sagte Nestor.

Der große Mann zog eine der markanten Augenbrauen hoch. »Von wem?«

»Von Coco. Einem Dealer, der bis vor kurzem im Ila wohnte.«

»Die Tunte mit der Ahle?«

Nestor hatte nie herausgefunden, woher der Große seine Informationen hatte, schließlich war er nie draußen auf den Straßen zu sehen, und Nestor war auch nicht zu Ohren gekommen, dass jemand mit ihm gesprochen oder ihn gar getroffen hätte. Trotzdem wusste der Große alles. Das war immer so gewesen. Zu Zeiten des Maulwurfs war das noch verständlich, da hatte der Große Zugang zu allem, was bei der Polizei vor sich ging. Aber nachdem sie Ab Lofthus, der ihr ganzes Kartenhaus zum Einsturz bringen wollte, getötet hatten, war es mit den Aktivitäten des Maulwurfs vorbei gewesen. Das Ganze lag jetzt bald fünfzehn Jahre zurück, und Nestor hatte sich damit abgefunden, wohl nie zu erfahren, wer der Maulwurf gewesen war.

»Er hat über einen jungen Typ im Ila geredet, der über so viel Geld verfügt, dass er die Schulden seines Zimmergenossen beglichen hat«, sagte Nestor mit seinem genau einstudierten Tonfall und dem – wie er meinte – slawischen r. »Zwölftausend.«