»Keiner im Ila zahlt für einen anderen«, sagte Vargen, ein älterer Mann, der für den Import der Mädchen zuständig war.
»Genau«, sagte Nestor. »Aber er schon, obwohl sein Kumpel ihn beschuldigt hat, ein paar Ohrringe geklaut zu haben. Deshalb dachte ich …«
»Das Geld aus Kalles Safe?«, sagte der Große. »Und der Schmuck von Iversen?«
»Genau. Ich war deshalb bei Coco und habe ihm ein Bild von Lofthus gezeigt. Coco hat mir bestätigt, dass das der Typ aus der 323 ist. Die Frage ist eigentlich nur, wie wir ihn«, Nestor legte die Fingerkuppen aneinander und schmatzte, als suchte er eine andere Formulierung, »zur Strecke bringen können.«
»Wir kommen da nicht rein«, sagte Vargen. »Jedenfalls nicht unbemerkt. Das Tor ist verschlossen, die Rezeption ständig besetzt, und überall hängen Überwachungskameras.«
»Wir könnten das von einem der Bewohner erledigen lassen«, sagte Voss. Er war früher der Geschäftsführer einer Wachgesellschaft gewesen, ihm war aber gekündigt worden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er in den Im- und Export von anabolen Steroiden verstrickt war.
»Nein, wir dürfen das keinem Junkie überlassen«, sagte Vargen. »Lofthus ist nicht nur unseren eigenen Leuten entkommen, also wirklich kompetenten Leuten, sondern hat wohl auch einen von ihnen ermordet.«
»Was sollen wir dann tun?«, fragte Nestor. »Draußen auf der Straße auf ihn warten? Im Haus gegenüber einen Scharfschützen postieren? Das ganze Hospiz anstecken und die Ausgänge verriegeln?«
»Lass die Witze, Hugo«, sagte Voss.
»Du solltest wissen, dass ich nie Witze mache.« Nestor spürte, dass sein Gesicht warm wurde, aber der Schweiß war versiegt. »Kriegen wir ihn nicht, bevor die Polizei ihn hat …«
»Gute Idee.« Die beiden Worte kamen so leise, dass sie kaum zu hören waren. Trotzdem dröhnten sie wie ein Donner durch den Raum.
Gefolgt von Stille.
»Was?«, fragte Nestor schließlich.
»Ihn nicht zu schnappen, bevor die Polizei ihn verhaftet«, sagte der Große.
Nestor sah sich um, um sich zu vergewissern, dass nicht nur er diese Worte gehört hatte. Dann fragte er: »Wie meinen Sie das?«
»Genau so«, flüsterte der Große, lächelte kurz und richtete den Blick auf die einzige Person im Raum, die sich bis jetzt nicht zu Wort gemeldet hatte. »Verstanden?«
»Ja«, sagte die Person. »Der Mann wird im Staten landen. Vielleicht nimmt er sich dort ja – wie sein Vater – das Leben.«
»Gut.«
»Dann gebe ich der Polizei einen Tipp, wo der Mann sich befinden könnte«, sagte die Person, hob den Kopf und zog das Doppelkinn aus dem Hemdkragen unter der grünen Uniform.
»Nicht nötig, um die Polizei kümmere ich mich«, sagte der Große.
»Wirklich?«, fragte Arild Franck verwundert.
Der große Mann drehte sich um und richtete sich an alle am Tisch: »Was ist mit diesem Zeugen in Drammen?«
»Er liegt im Krankenhaus in der Herzabteilung«, hörte Hugo Nestor jemanden sagen, während er selbst auf das Gemälde starrte …
»Und was machen wir mit ihm?«
… und starrte …
»Was wir machen müssen«, antwortete die tiefe Stimme.
… und auf den Zwilling starrte, der am Kreuz hing.
Erhängt.
Martha saß auf dem Dachboden und starrte an den Balken.
Den anderen hatte sie gesagt, dass sie überprüfen wollte, ob die Ablage auch anständig gemacht worden war, dabei war ihr das eigentlich vollkommen egal. Sie dachte nur an ihn, an Stig, und das war ebenso banal wie tragisch. Sie war verliebt. Sie hatte immer gemeint, gar nicht die Veranlagung für derart große Gefühle zu haben. Natürlich war sie schon mal verliebt gewesen, mehrmals, aber nicht so wie jetzt. Bisher war es immer nur ein Kitzeln gewesen, ein spannendes Spiel, geschärfte Sinne und glühende Haut. Aber das jetzt, das war … krank. Es hatte sich ihres Körpers bemächtigt und steuerte alles, was sie tat oder dachte. Verliebt. Welch treffendes Wort. Wie verstaucht oder verlaufen. Ver-liebt. In die Irre geraten. Unerwünscht. Destruktiv.
Waren das auch die Gefühle der Frau gewesen, die sich hier oben erhängt hatte? War auch sie einem Mann verfallen, von dem sie tief in ihrem Inneren wusste, dass er sich auf der falschen Seite befand? Und war auch sie von ihrer Verliebtheit so verblendet, dass sie mit sich selbst zu argumentieren begann, was richtig und was falsch war, um sich eine neue Moral zu erschaffen, die mit dieser wunderbaren Krankheit harmonierte? Oder erkannte sie all das – wie Martha – erst, als es zu spät war? Martha war, als alle frühstückten, in Zimmer 323 gegangen und hatte sich noch einmal die Joggingschuhe genau angesehen. Die Sohlen rochen nach Neutralseife. Wer wäscht denn die Sohlen eines beinahe neuen Paars Joggingschuhe? Das tat man doch nur, wenn man etwas zu verbergen hatte. Und warum war sie deshalb derart verzweifelt, dass sie nach hier oben fliehen musste? Herrgott noch mal, sie wollte ihn doch gar nicht.
Sie starrte an den Balken.
Aber sie würde nicht tun, was die andere getan hatte. Sie würde ihn nicht anzeigen. Es musste einen Grund für das geben, was er getan hatte, auch wenn sie den noch nicht kannte. Das Ganze passte überhaupt nicht zu ihm. Sie hörte bei ihrer Arbeit tagtäglich so viele Lügen, Ausflüchte und Umschreibungen der Wirklichkeit, dass sie irgendwann einmal aufgehört hatte, daran zu glauben, auch nur einer ihrer Bewohner sei derjenige, für den er sich ausgab. Trotzdem wusste sie, dass Stig kein kaltblütiger Mörder war.
Sie wusste das, weil sie verliebt war.
Martha verbarg ihr Gesicht in den Händen und spürte die Tränen. Ihr Körper zitterte. Er hatte sie küssen wollen. Sie hatte ihn küssen wollen. Wollte ihn küssen. Hier, jetzt, immer! Wollte in das Meer aus großen, warmen, angenehmen Gefühlen tauchen. Drogen nehmen, nachgeben, sich die Spritze setzen und den Rausch spüren, danken und verfluchen.
Sie hörte das Weinen. Und spürte, wie die Haare auf ihrem Arm sich aufstellten. Starrte auf das Walkie-Talkie. Jammerndes, klagendes Kinderweinen.
Als sie das Gerät ausschalten wollte, hielt sie plötzlich inne. Das Weinen klang dieses Mal anders. Als hätte das Kind Angst, als würde es sie rufen. Aber es war dasselbe Kind. Immer dasselbe Kind. Ihr Kind. Das verschwundene Kind. Gefangen in der Leere, im Nichts, versuchte es den Weg nach Hause zu finden. Und niemand konnte oder wollte helfen. Niemand wagte es. Weil sie nicht verstanden, wie das möglich war, und weil sie fürchteten, was sie nicht verstanden. Martha horchte auf das Weinen. Es wurde immer lauter. Dann war ein lautes Knacken zu hören, gefolgt von einer hysterischen Stimme:
»Martha! Martha! Bitte kommen …!«
Sie erstarrte. Was war denn jetzt wieder los?
»Martha! Die stürmen hier einfach so rein! Die haben Waffen! Mein Gott, wo bist du denn?«
Sie nahm das Walkie-Talkie und drückte den Sprechknopf. »Was ist los, Maria?« Sie ließ den Knopf los.
»Das sind total viele, und sie tragen schwarze Klamotten und Masken, haben Schilde und Gewehre! Du musst kommen, bitte!«
Martha stand auf und stürmte durch die Tür. Sie hörte das Gepolter ihrer eigenen Füße auf der Treppe nach unten. Riss die Tür auf, die auf den Flur im zweiten Stock führte, und sah einen der Schwarzgekleideten herumwirbeln und mit einem kurzen Gewehr oder einer Maschinenpistole auf sie zielen. Dann erblickte sie die drei anderen, die vor dem Zimmer 323 Stellung bezogen hatten. Zwei davon schwangen einen kurzen Rammbock zwischen sich.
»Was …?«, begann Martha, hielt aber inne, als der Mann mit der Maschinenpistole sich vor sie stellte und einen Finger an die Stelle legte, an der sie unter der schwarzen Sturmhaube seinen Mund vermutete. Sie blieb eine Sekunde stehen, ehe ihr bewusst wurde, dass nur diese idiotische Waffe sie aufhielt.
»Kann ich bitte einen Durchsuchungsbeschluss sehen! Sie dürfen hier nicht einfach so …«