Hunde. Das kurze, harte Bellen der Argentinischen Doggen.
Nur wusste er nicht, was das alles sollte. Wer war der Kerl, und warum passierte das alles? Wollte jemand ihren Markt übernehmen? War es derselbe, der Kalle getötet hatte? Aber warum auf diese Weise?
Der Reißverschluss wurde aufgezogen, und Nestor kniff geblendet vom Licht der Taschenlampe, die auf sein Gesicht gerichtet war, die Augen zusammen.
Eine Hand packte ihn im Nacken und zog ihn hoch.
Er öffnete die Augen und sah die Pistole, die matt im Lichtschein glänzte. Das Hundegebell war abrupt verstummt.
»Wer war der Maulwurf?«, fragte die Stimme hinter dem Licht.
»Was?«
»Wer war der Maulwurf? Der, für den die Polizei Ab Lofthus fälschlicherweise hielt?«
Hugo Nestor blinzelte ins Licht. »Ich weiß es nicht. Du kannst mich erschießen, aber ich weiß es trotzdem nicht.«
»Wer weiß es?«
»Keiner. Keiner von uns. Vielleicht jemand bei der Polizei.«
Die Taschenlampe wurde gesenkt, und Nestor sah, dass es dieser Anwalt war. Die Brille hatte er inzwischen abgenommen.
»Sie müssen die Strafe annehmen«, sagte er. »Wollen Sie sich erst Ihr Herz erleichtern?«
Von was redete er? Der Kerl klang ja wie ein Pastor. Hatte das etwas mit dem Typ zu tun, den sie auf der Brücke liquidiert hatten? Aber das war doch nur ein korruptes, pädophiles Schwein gewesen, sicher nicht jemand, der gerächt würde.
»Ich habe kein schlechtes Gewissen«, sagte Nestor. »Wegen nichts. Mach ein Ende!«
Er fühlte sich seltsam ruhig. Vielleicht waren das die Nachwirkungen der Drogen. Oder weil er diese Situation so oft durchgespielt und längst akzeptiert hatte, dass er vermutlich einmal mit einer Kugel in der Stirn enden würde.
»Nicht einmal wegen des Mädchens, auf das Sie den Hund gehetzt und dem Sie dann die Kehle durchgeschnitten haben? Mit diesem Messer …«
Nestor blinzelte in das Licht, das von der krummen Schneide reflektiert wurde. Sein Messer.
»Nicht …«
»Wo haben Sie die Mädchen versteckt, Nestor?«
Die Mädchen? Wollte der Kerl diesen Markt übernehmen? Nestor versuchte, sich zu konzentrieren, aber in seinem Kopf war nichts als Nebel.
»Versprichst du mir, mich nicht zu erschießen, wenn ich es dir sage?«, fragte er, auch wenn er sich darüber im Klaren war, dass ein Ja in etwa die gleiche Kreditwürdigkeit hatte wie eine Deutsche Mark im Jahr 1923.
»Ja«, sagte der Kerl.
Trotzdem glaubte Nestor ihm. Warum hielt er das Wort eines Menschen für wahr, der ihn seit dem ersten Auftauchen im Vermont nur belogen hatte? Oder waren das Wahnvorstellungen seines benebelten Hirns? Klammerte es sich an den letzten Strohhalm? Schließlich war ihm in dieser Nacht am Hundezwinger mitten im Wald nichts anderes geblieben als die idiotische Hoffnung, dass sein Entführer nicht log.
»Enerhauggata 96.«
»Vielen Dank«, sagte der Kerl und schob sich die Pistole in den Hosenbund.
Vielen Dank?
Der Mann holte sein Telefon hervor und begann etwas einzutippen, das auf einem gelben Post-it-Zettel stand, bestimmt eine Telefonnummer. Als das Display sein Gesicht erhellte, dachte Nestor, dass er vielleicht doch ein Pastor war. Ein Pastor, der nicht log. A contradiction in terms, natürlich, trotzdem war er überzeugt davon, dass es Pastoren gab, die wenigstens nicht bewusst logen. Der Mann tippte weiter. Eine SMS. Schickte sie mit einem letzten Fingertippen ab und ließ das Telefon wieder in seine Tasche gleiten, bevor er Nestor ansah.
»Sie haben eine gute Tat begangen, Nestor, vielleicht werden Sie jetzt gerettet«, sagte er. »Vielleicht ist es ja gut, so etwas vorher zu wissen.«
Vor was? Nestor schluckte. Als der Kerl ihm versprach, ihn nicht zu töten, hatte seine Stimme seltsam glaubhaft geklungen. Moment! Er hatte versprochen, ihn nicht zu erschießen. Das Licht der Taschenlampe war auf das Vorhängeschloss des Zwingers gerichtet. Dann glitt der Schlüssel ins Schlüsselloch. Und plötzlich hörte Nestor auch wieder die Hunde. Kein Bellen, nur ein kaum hörbarer, vielstimmiger tiefer Ton. Ein beherrschtes Knurren wie aus der Tiefe ihres Magens, das langsam und kontrolliert immer kräftiger und lauter wurde, wie Wagners kontrapunktische Musik. Kein Dope der Welt konnte die Angst jetzt noch aufhalten. Sie lief ihm wie Eiswasser durch den Körper. Ohne Chance, davongespült zu werden, denn es fühlte sich an, als wäre ein Mann in ihm und spritzte das Innere seines Kopfs und seines Körpers aus. Und fliehen konnte er nicht, denn der Mann, der den Schlauch hielt, war er selbst, Hugo Nestor.
Fidel Lae hockte im Dunkeln und starrte nach draußen. Er hatte sich nicht gerührt und keinen Muckser von sich gegeben. Zusammengekauert versuchte er, sich zu wärmen und sein Zittern zu kontrollieren. Er erkannte beide Stimmen. Die eine gehörte dem Mann, der vor mehr als einem Tag wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn hier eingesperrt hatte. Fidel hatte kaum etwas gegessen, nur ein bisschen Wasser getrunken. Und gefroren. Auch in Sommernächten frisst die Kälte sich in den Körper und lässt ihn gefrieren. Er hatte geschrien und um Hilfe gerufen, bis sein Hals trocken war, seine Stimme versagte und Blut und nicht Speichel den Rachen hinunterlief. Irgendwann verschaffte nicht einmal mehr das Wasser Linderung, sondern brannte wie Alkohol.
Als er das Auto hörte, versuchte er wieder zu schreien. Und er weinte, als kein Laut, sondern bloß ein heiseres Krächzen wie eine Fehlschaltung über seine Lippen kam.
Das Bellen der Hunde verriet ihm, dass jemand kam. Er hoffte und betete und erkannte schließlich an der Silhouette, die sich vor dem Sommerhimmel abzeichnete, dass es wieder der Mann war. Der Mann, der tags zuvor über das Moor geschwebt war, ging jetzt gebeugt und schob etwas vor sich her. Einen Koffer. Mit einem lebenden Menschen darin. Einen Mann, der mit gefesselten Händen und Füßen derart eingepfercht worden war, dass er kaum das Gleichgewicht halten konnte, als er vor der Tür des Zwingers neben Fidel stand.
Hugo Nestor.
Sie waren kaum vier Meter von Fidel entfernt, aber trotzdem hörte er nicht, was sie sagten. Der Mann schloss das Vorhängeschloss auf und legte die Hand auf Nestors Kopf, als wollte er ihn segnen. Dann sagte er etwas und drückte Nestors Kopf leicht nach unten. Der untersetzte Mann im Anzug schrie kurz auf, kippte nach hinten und traf die Zwingertür, die nach innen aufging. Die Hunde wichen zurück. Dann ging ein Ruck durch Ghost Buster, und er setzte sich in Bewegung. Fidel sah, wie sich die weißen Hundekörper auf Nestor stürzten. So lautlos, dass Fidel hörte, wie die Kiefer zuschnappten, sie das Fleisch fast selig knurrend zerrissen, begleitet von Nestors Schrei. Ein einsamer, zitternder, seltsam reiner Ton, der in den hellen nordischen Himmel stieg, vor dem Fidel die Insekten tanzen sah. Dann brach der Ton abrupt ab. Etwas erhob sich wie ein Schwarm in den Himmel und fiel dann auf ihn herab. Er spürte die Dusche aus winzigen, warmen Tropfen und verstand, denn er war schon einmal dabei gewesen, als die Hunde einem auf der Jagd angeschossenen Elch die Halsschlagader durchgebissen hatten. Fidel hielt sich den Ärmel seiner Jacke übers Gesicht und wandte sich ab. Auch der Mann, der vor dem Zwinger stand, hatte sich abgewandt. Seine Schultern zitterten. Als weinte er.
Kapitel 29
»Es ist mitten in der Nacht«, sagte der Arzt und rieb sich die Augen. »Wollen Sie nicht nach Hause fahren und ein bisschen schlafen, Herr Kefas, wir können das doch auch morgen besprechen?«
»Nein«, sagte Simon.
»Okay«, sagte der Arzt und gab Simon ein Zeichen, auf einem der Stühle Platz zu nehmen, die auf dem kahlen Krankenhausflur standen. Als der Arzt sich neben ihn setzte und eine Pause machte, bevor er sich vorbeugte, wusste Simon, dass er schlechte Nachrichten hatte: