»Ihre Frau hat nicht mehr viel Zeit. Wenn die Operation erfolgreich sein soll, muss sie im Laufe der nächsten Tage unters Messer.«
»Und Sie können nichts tun?«
Der Arzt seufzte. »Für gewöhnlich empfehlen wir unseren Patienten nicht, ins Ausland zu gehen und sich einer teuren privaten Behandlung zu unterziehen. Ganz sicher nicht, wenn der Ausgang der Operation so unsicher ist. Aber in diesem Fall …«
»Sie sagen also, dass ich sie auf schnellstem Wege in die Howell-Klinik bringen muss?«
»Sie müssen gar nichts. Das habe ich nicht gesagt. Viele Blinde leben mit ihrer Behinderung ein vollwertiges Leben.«
Simon nickte, während seine Finger über die Blendgranate strichen, die er noch immer in der Tasche hatte. Er versuchte nachzudenken, aber seine Gedanken verloren sich in der Frage, ob man heute überhaupt noch von Behinderungen sprach oder ob das wie so vieles im Gesundheitswesen auch schon einen neuen Namen bekommen hatte.
Der Arzt räusperte sich.
»Ich …«, begann Simon, als sein Handy knisterte. Er griff danach, er brauchte die Auszeit. Die Nummer, von der die SMS geschickt worden war, kannte er nicht.
Der Text war relativ kurz.
Du findest Nestors Gefangene in der Enerhauggata 96. Es eilt.
Der Sohn.
Der Sohn.
Simon wählte eine Nummer.
»Hören Sie«, sagte der Arzt, »ich habe jetzt nicht die Zeit …«
»Dann nehmen Sie sie sich«, sagte Simon und hob eine Hand, um ihm zu signalisieren, dass er den Mund halten sollte, als sich eine verschlafene Stimme am Telefon meldete:
»Falkeid.«
»Hallo, Sivert, hier ist Simon Kefas. Du musst das Delta Team zusammentrommeln und gleich losschlagen. Das Objekt ist die Enerhauggata 96. Wie schnell könnt ihr da sein?«
»Es ist mitten in der Nacht.«
»Danach habe ich nicht gefragt.«
»Fünfunddreißig Minuten. Hast du die Autorisierung des Polizeipräsidenten?«
»Pontius ist im Moment nicht erreichbar«, log Simon. »Aber du kannst ganz ruhig bleiben, die Aktionsgrundlage ist bombensicher. Trafficking. Der Zeitfaktor ist entscheidend. Legt einfach los, ich nehme das auf meine Kappe.«
»Ich hoffe, du weißt, was du tust, Simon.«
Simon legte auf und sah zu dem Arzt hinüber. »Danke, Doktor, ich denke darüber nach. Jetzt muss ich arbeiten.«
Betty hörte die Paarungslaute schon, als sie in der obersten Etage aus dem Fahrstuhl traten.
»Wirklich?«, fragte Betty.
»Pay-TV«, sagte der Sicherheitsassistent, der sie begleitete.
Aus den Nachbarsuiten war eine Beschwerde gekommen, und Betty hatte das routinemäßig im Rezeptionsprotokoll notiert. »02.13 Uhr, Klage wegen Lärms aus Suite 4.« Dann hatte sie in der Suite angerufen, aber niemanden erreicht, so dass ihr nichts anderes übriggeblieben war, als sich an die Sicherheitsabteilung zu wenden.
Sie ignorierten das »Bitte-nicht-stören«-Schild, das draußen am Türknauf hing, und klopften fest an. Warteten. Klopften noch einmal. Betty verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein.
»Sie sehen nervös aus«, sagte der Sicherheitsassistent.
»Ich habe so ein Gefühl, dass der Gast dieser Suite … etwas am Laufen hat.«
»Etwas?«
»Drogen oder was weiß ich.«
Der Sicherheitsassistent löste den Knopf seines Schlagstocks und richtete sich auf, als Betty die Personalkarte in das Schloss steckte und öffnete.
»Herr Lae?«
Das Wohnzimmer war leer. Die Paarungslaute kamen von einer Frau in einem roten Lederkorsett mit weißem Kreuz, das vermutlich andeuten sollte, dass sie Krankenschwester war. Betty nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher aus, während der Sicherheitsassistent ins Schlafzimmer ging. Die Aktenkoffer waren verschwunden. Sie bemerkte die halbleeren Gläser und auf der Bartheke die angeschnittene Zitrone. Sie war ausgetrocknet, und das Fruchtfleisch hatte sich seltsam braun verfärbt. Betty öffnete die Schranktüren. Auch der Anzug, der große Koffer und die rote Tasche waren verschwunden. Es war der älteste Trick, einfach ein »Bitte-nicht-stören«-Schild an die Tür zu hängen und den Fernseher einzuschalten. So deutete alles darauf hin, dass der Gast noch im Zimmer war. Aber er hatte die Suite ja im Voraus bezahlt. Und es gab auch keine unbezahlten Restaurant- oder Barrechnungen, das hatte sie bereits überprüft.
»Im Bad ist jemand.«
Sie drehte sich zu dem Sicherheitsassistenten um, der in der Schlafzimmertür stand. Sie folgte ihm.
Der Mann, der auf dem Badezimmerboden lag, schien sich an die Kloschüssel zu klammern. Bei näherem Hinsehen entdeckte sie aber, dass er mit Plastikstrips an den Handgelenken gefesselt war. Er trug einen schwarzen Anzug, hatte blonde Haare und wirkte nicht nüchtern. Er schien irgendetwas genommen zu haben und blinzelte sie träge an.
»Machen Sie mich los«, sagte er mit einem Akzent, den Betty nicht auf dem Globus platzieren konnte.
Betty nickte dem Sicherheitsassistenten zu, der ein Schweizermesser zückte und die Plastikstrips durchschnitt.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Der Mann kam auf die Beine, blieb etwas schwankend vor ihnen stehen und versuchte, den Blick zu fokussieren. »Wir haben bloß so ein dummes Spielchen gespielt«, murmelte er. »Ich gehe jetzt …«
Der Sicherheitsassistent baute sich vor ihm in der Tür auf und versperrte ihm den Weg.
Betty sah sich um. Kaputt war nichts. Die Rechnung war bezahlt. Sie hatten lediglich die Beschwerde wegen Lärmbelästigung. Jetzt konnten sie nur noch Ärger mit der Polizei bekommen, Aufsehen in der Presse erregen und sich einen schlechten Ruf als Treffpunkt zwielichtiger Elemente einhandeln. Der Chef hatte sie für ihre Diskretion gelobt und dafür, immer als Erstes an die Interessen des Hotels zu denken. Dass sie es weit bringen könne und die Rezeption für Menschen wie sie nur ein Zwischenstopp sei.
»Lassen Sie ihn gehen«, sagte sie.
Lars Gilberg wachte vom Rascheln der Büsche auf. Er drehte sich um und sah die menschlichen Konturen hinter den Zweigen und Blättern. Jemand versuchte, die Sachen des jungen Mannes zu stehlen. Lars kroch aus dem dreckigen Schlafsack und rappelte sich auf.
»He, du da!«
Die Person erstarrte. Drehte sich um. Der junge Mann sah verändert aus. Nicht nur wegen des Anzugs. Auch sein Gesicht wirkte irgendwie geschwollen.
»Danke, dass du auf meine Sachen aufgepasst hast«, sagte er und blickte auf die Tüte, die er sich unter den Arm geklemmt hatte.
»Hm«, sagte Lars und legte den Kopf zur Seite, um vielleicht so erkennen zu können, was anders war. »Bist du in Schwierigkeiten?«
»Klar doch«, sagte der Mann mit einem Lächeln. Aber irgendwas war hinter diesem Lächeln verborgen. Etwas Blasses. Seine Lippen zitterten. Er sah aus, als hätte er geweint.
»Brauchst du Hilfe?«
»Nein, aber danke.«
»Hm, dann sehen wir uns wohl nicht wieder?«
»Nein, das glaube ich nicht. Leb wohl, Lars.«
»Versprochen. Und du …« Er trat einen Schritt vor und legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Leb lang. Versprichst du mir das auch?«
Der junge Mann nickte schnell. »Guck mal unter dein Kopfkissen«, sagte er.
Lars drehte sich automatisch zu seinem Schlafplatz unter der Brücke um, und als er sich dann wieder zu dem Mann umwandte, sah er ihn gerade noch im Dunkeln verschwinden.
Er ging zurück zu seinem Schlafsack. Sah etwas unter dem Kopfkissen hervorgucken. Er zog es heraus. »Für Lars« stand auf dem Umschlag. Er öffnete ihn.
Lars Gilberg hatte nie zuvor in seinem Leben so viel Geld auf einmal gesehen.
»Sollte Delta nicht langsam hier sein?«, fragte Kari, gähnte und warf einen Blick auf die Uhr.
»Doch«, erwiderte Simon und sah nach draußen. Sie hatten auf halber Höhe in der Enerhauggata geparkt, so dass die Nummer 96 noch gut fünfzig Meter vor ihnen auf der anderen Straßenseite lag. Es war ein weißes zweigeschossiges Holzhaus, eines der wenigen, die verschont geblieben waren, als die pittoreske Holzhausbebauung in den sechziger Jahren vier Hochhäusern hatte weichen müssen. Das kleine Haus stand so still und friedlich in der Sommernacht, dass Simon sich nur schwer vorstellen konnte, dass dort Menschen gefangen gehalten wurden.