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Die beiden gingen in den Flur. Als Simon die schwarzweiße Uniformmütze vom Schrank nahm, stieß Mats einen Freudenschrei aus. Er verstummte aber gleich wieder andächtig, als sein Onkel ihm die Mütze auf den Kopf setzte. Sie standen vor dem Spiegel. Der Junge zielte mit dem Zeigefinger auf Simons Spiegelbild und ahmte mit dem Mund Schüsse nach.

»Auf wen schießt du?«

»Auf Banditen!«, zischte der Junge. »Pchiu! Pchiu!«

»Schieß lieber auf eine Zielscheibe«, sagte Simon. »Die Polizei schießt nicht auf Banditen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«

»Doch! Pchiu! Pchiu!«

»Du, dafür würden wir ins Gefängnis kommen, Mats!«

»Wir?« Der Junge hielt inne und sah seinen Onkel verwundert an. »Warum denn? Wir sind doch die Polizei.«

»Wir sind nicht besser als die Banditen, wenn wir sie einfach erschießen, statt sie festzunehmen.«

»Aber … aber wenn wir sie gefangen haben, dann dürfen wir doch wohl auf sie schießen, oder?«

Simon lachte. »Nein. Dann erst recht nicht, dann entscheidet ein Richter darüber, wie lange die Verbrecher ins Gefängnis müssen.«

»Ich dachte, du würdest das entscheiden, Onkel Simon?«

Simon sah die Enttäuschung in den Augen des Jungen. »Weißt du was, Mats? Ich bin ganz glücklich darüber, dass ich das nicht zu entscheiden habe. Ich bin froh, sie nur fangen zu müssen. Denn das ist der wirklich spannende Teil der Arbeit.«

Mats kniff ein Auge zu, und die Mütze rutschte ihm in den ­Nacken.

»Du, Onkel Simon …«

»Ja?«

»Warum haben du und Tante Else eigentlich keine Kinder?«

Simon stellte sich hinter seinen Neffen, legte ihm die Hände auf die Schultern und lächelte ihn im Spiegel an. »Wir brauchen keine Kinder, wir haben doch dich. Oder?«

Mats sah seinen Onkel ein paar Sekunden lang nachdenklich an. Dann öffnete sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Okay!«

Simon schob die Hand in die Tasche und holte das Handy hervor, das zu vibrieren begonnen hatte.

Es war die Einsatzzentrale. Simon hörte zu.

»Wo am Akerselva?«, fragte er.

»Oberhalb vom Kuba, an der Kunsthochschule. Da ist eine Brücke …«

»Ich weiß, wo die ist«, sagte Simon. »Ich bin in dreißig Minuten da.«

Simon zog sich gleich im Flur die Schuhe an und warf sich das Sakko über.

»Else!«, rief er.

»Ja?« Ihr Gesicht kam oben an der Treppe zum Vorschein. Wieder war er von ihrer Schönheit beeindruckt. Ihre langen roten Haare umspülten das kleine blasse Gesicht wie ein Fluss. Die Sommersprossen auf der winzigen Nase … würde sie vermutlich auch noch haben, wenn es ihn nicht mehr gab, dachte er. Wieder meldete sich der Gedanke, den er immer zu vermeiden suchte: Und wer kümmerte sich dann um sie? Er wusste, dass sie ihn von dort, wo sie stand, vermutlich gar nicht sehen konnte. Sie tat nur so als ob. Er räusperte sich.

»Ich muss los, Liebes. Rufst du mich an und erzählst mir, was der Doktor gesagt hat?«

»Ja, mache ich. Fahr vorsichtig.«

Die beiden älteren Polizisten gingen durch die parkähnliche Anlage, die im Volksmund nur Kuba hieß. Die meisten glaubten, der Name habe etwas mit dem Land zu tun. Vielleicht weil hier früher politische Versammlungen stattgefunden hatten und Grünerløkka immer schon ein Arbeiterviertel gewesen war. Man musste schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, um die wahre Herkunft des Namens zu kennen, denn hier hatte einmal ein großer Gasbehälter gestanden, mit einem Überbau in Form eines Kubus.

Die Männer gingen über die Brücke, die zu den alten Fabrikgebäuden führte, in denen die Kunsthochschule untergebracht war. An dem Gitter des Geländers hingen Vorhängeschlösser mit Datum und den Initialen der Liebenden. Simon blieb stehen und sah sich eines davon genauer an. Er hatte Else jeden Tag der zehn Jahre, die sie zusammen waren, geliebt. Mehr als dreieinhalbtausend Tage. In seinem Leben würde es keine andere Frau mehr geben, um das zu wissen, brauchte er kein symbolisches Vorhängeschloss. Und sie auch nicht. Wobei er insgeheim hoffte, dass sie ihn so lange überlebte, dass in ihrem Leben noch reichlich Zeit für neue Männer war, wenn er erst einmal Platz gemacht hatte.

Von ihrem Standort aus sahen sie weiter oberhalb die Åmotbrua, eine bescheidene Brücke über einem bescheidenen Fluss, der die bescheidene Hauptstadt in Ost und West teilte. Vor langer Zeit, als er noch jung und dumm gewesen war, hatte er sich einmal von dieser Brücke kopfüber ins Wasser gestürzt. Drei besoffene Jungs, von denen zwei einen unerschütterlichen Glauben an sich selbst und die Zukunft hatten und davon überzeugt waren, der Beste von ihnen Dreien zu sein. Der Dritte im Bunde, er selbst, hatte schon damals erkannt, dass er mit den anderen nicht mithalten konnte. Weder an Intelligenz noch an Stärke, auch nicht, was Beziehungen anging, oder in Sachen Frauen. Aber er war der Mutigste. Man hätte auch sagen können, der Risikofreudigste. Es brauchte keinen großen Intellekt oder besondere körperliche Fähigkeiten, um von einer Brücke in dreckiges Wasser zu springen. Allenfalls eine gewisse Dummdreistigkeit. Simon Kefas hatte oft gedacht, dass sein jugendlicher Pessimismus seine Chance gewesen war. Er hatte ihm die Kraft gegeben, um die Zukunft zu spielen, die er nicht wirklich hochschätzte. Er hatte weniger zu verlieren als die anderen, alles auf eine Karte gesetzt und war so lange auf dem Geländer stehen geblieben, bis die beiden anderen geschrien hatten, er solle das nicht tun, er sei wahnsinnig. Und dann war er gesprungen. Von der Brücke, aus dem Leben, hinein in das surrende Kasinorad namens Schicksal. Er war ins Wasser eingetaucht, in den weißen Schaum, und war von der Kälte umarmt worden. Und in dieser Umarmung hatten Stille, Einsamkeit und Frieden gelegen. Und als er unverletzt wieder an die Oberfläche gekommen war, hatten sie gejubelt. Auch Simon selbst. Obwohl er schon ein bisschen enttäuscht war, wieder zurück zu sein. Was Liebeskummer doch mit einem jungen Mann anstellen konnte.

Simon schüttelte die Erinnerungen ab und richtete seinen Blick auf den Wasserfall zwischen den beiden Brücken. Genauer gesagt, auf die Gestalt, die darin hing, als wäre sie im Wasser festgefroren, wie auf einer Fotografie.

»Vermutlich hat die Strömung ihn mitgerissen«, sagte der Kriminaltechniker neben Simon. »Und dann haben seine Kleider sich an irgendetwas in dem Wasserfall verhakt. Der Fluss ist ja überall so flach, dass man ihn durchwaten kann.«

»Gut möglich«, sagte Simon, saugte an dem Päckchen Snus, das unter seiner Oberlippe steckte, und legte den Kopf schief. Die Gestalt hing falsch herum, die Arme zur Seite, während das Wasser wie ein Strahlenkranz ihren Kopf und Körper umspülte. Wie Elses Haare, dachte er.

Die Spurensicherung hatte endlich ein Boot zu Wasser gelassen und versuchte den Toten aus dem Wasserfall zu befreien.

»Ich wette um ein Bier, dass das ein Selbstmord ist.«

»Keine Chance, Elias«, sagte Simon, schob den Zeigefinger unter die Oberlippe und fischte das Snuspäckchen heraus. Er wollte es unter sich fallen lassen, ins Wasser, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück. Neue Zeiten. Er sah sich nach einem Abfalleimer um.

»Dann hältst du dagegen?«

»Nein, Elias, ich wette nicht um Bier.«

»Oh, sorry, das hatte ich ganz vergessen …« Der Kriminaltechniker sah betreten zu Boden.

»Schon okay«, sagte Simon und ließ ihn stehen. Im Vorbei­gehen nickte er einer großen blonden Frau zu. Sie trug einen schwarzen Rock und eine kurze schwarze Jacke. Ohne den Polizeiausweis, der an einem Band um ihren Hals hing, hätte er sie sicher für eine Bankerin gehalten. Er warf das Snuspäckchen in den grünen Abfalleimer am Ende der Brücke, ging zum Fluss hin­unter und folgte dem Ufer, den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet.

»Hauptkommissar Simon Kefas?«