Sie schaltete den Fernseher ein, der an der Wand hing, und zog sich aus. Dann ging sie ins Bad, schminkte sich ab und putzte sich die Zähne. Sie hörte das gleichmäßige Stimmengemurmel des Nachrichtensenders von TV2. Sie schlief einfach besser ein, wenn der Fernseher leise lief. Vielleicht weil die feste Stimme des Nachrichtensprechers sie an ihren Vater erinnerte und mit ihrer Kraft und Stärke auch den Untergang der Welt verkünden konnte, ohne dass man sich dadurch weniger sicher fühlte. Doch das alleine reichte nicht. Seit kurzem nahm sie auch Schlaftabletten. Zwar nur leichte, aber trotzdem, der Hausarzt hatte ihr geraten, sich von den Nachtschichten befreien zu lassen, um zu sehen, ob das half. Man kam auf der Karriereleiter nur nicht weiter nach oben, wenn man den Weg des geringsten Widerstands ging. Sie musste ihre Aufgaben meistern. Durch das Rauschen des Wassers beim Zähneputzen hörte sie, dass die Polizei eine Person wegen eines Mordes in einem Hundezwinger suchte und dass diese Person auch etwas mit dem Mord an Agnete Iversen und dem Dreifachmord in Gamlebyen zu tun haben konnte.
Betty spülte sich den Mund aus, drehte das Wasser ab und ging ins Schlafzimmer. Auf der Türschwelle erstarrte sie, als sie im Fernsehen das Foto eines Mannes sah.
Es war ihr Gast.
Er trug einen Bart und lange Haare, aber Betty war trainiert darin, ein Gesicht auszuziehen und zu demaskieren und im Kopf mit der Datenbank abzugleichen, die das Plaza und andere internationale Hotels zum Thema notorische Hotelbetrüger führten, die früher oder später an der Rezeption auftauchen konnten. Er war es, sie hatte gesehen, wie der Mann eincheckte, da noch ohne Brille und mit Augenbrauen.
Sie starrte auf das Telefon, das sie auf das Nachtschränkchen gelegt hatte.
Aufmerksam, aber diskret. Die Interessen des Hotels sollten immer im Vordergrund stehen. Sie konnte es weit bringen.
Sie kniff die Augen zusammen.
Ihre Mutter hatte recht. Diese verfluchten Nachrichten.
Arild Franck stand am Fenster, sah die Beamten der Nachtschicht durchs Tor gehen und merkte sich diejenigen, die zu spät zur Schicht kamen. Er ärgerte sich über Menschen, die ihre Arbeit nicht anständig machten. Wie die Leute von Kripos oder vom Morddezernat. Wenn er nur an den Einsatz im Ila dachte, bei dem sie alle Informationen gehabt hatten und Lofthus ihnen trotzdem entwischt war, könnte er platzen. Das ging gar nicht. Und jetzt hatten sie den Preis dafür zahlen müssen. Hugo Nestor war in der letzten Nacht ermordet worden. In einem Hundezwinger. Es war wirklich nicht zu glauben, dass ein Mann, ein Drogenabhängiger, so viel zerstören konnte. Es war der gute Bürger in Franck, der sich über ihre Unfähigkeit aufregte, ja manchmal regte er sich insgeheim sogar darüber auf, dass sie ihn, den korrupten Gefängnisleiter, noch nicht entlarvt hatten. Denn sie ahnten etwas, das hatte er an Simon Kefas’ Blick gesehen. Aber Kefas war viel zu feige und hatte selbst viel zu viel zu verlieren, um zuzuschlagen. Dieser Mann war nur dann mutig, wenn das, was im Pott lag, tot war. Geld. Das verdammte Geld. Was hatte er geglaubt? Dass er sich damit eine Büste erkaufen konnte, einen Namen, dass er als guter Bürger in Erinnerung blieb? War man erst mal in dem Strudel aus Geld gefangen, war es wie mit Heroin, dann zählten nur noch die Zahlen auf dem Bankkonto, dann gab es kein sinnvolles Ziel mehr. Genau wie ein Junkie wusste und verstand man das ganz genau, konnte aber trotzdem nichts dagegen tun.
»Ein Wachmann namens Sørensen will Sie sprechen«, sagte die Sekretärin durch die Gegensprechanlage.
»Nicht …«
»Er ist direkt an mir vorbeigegangen. Meinte, es würde nur eine Minute dauern.«
»Na dann«, sagte Franck. Sørensen. Wollte er sich etwa wieder gesundmelden? Sollte dem so sein, wäre das für einen norwegischen Arbeitnehmer ganz ungewöhnlich. Hinter Arild Franck ging die Tür auf.
»Nun, Sørensen?«, sagte er laut, ohne sich umzudrehen. »Vergessen anzuklopfen?«
»Setzen Sie sich.«
Franck hörte, dass das Schloss verriegelt wurde, und drehte sich überrascht zu der Stimme um. Er hielt inne, als er die Pistole sah.
»Ein Mucks, und ich schieße Ihnen direkt in die Stirn.«
Eine Pistole hat eine seltsame Eigenschaft. Wird sie auf jemanden gerichtet, blickt der Betreffende häufig derart fokussiert auf die Waffe, dass es eine ganze Weile dauert, bis er die Person, die ihn bedroht, erkennt. Erst als der junge Mann ihm mit dem Fuß einen Stuhl herüberschob, sah Franck, wen er vor sich hatte. Er war zurückgekommen.
»Sie haben sich verändert«, sagte Franck heiser. Er hatte autoritärer klingen wollen, aber sein Hals war so trocken, dass kaum ein hörbarer Laut herauskam.
Die Pistole wurde etwas angehoben, und Franck setzte sich sofort hin.
»Legen Sie die Arme auf die Lehne«, sagte der junge Mann. »Ich drücke jetzt auf den Knopf der Gegensprechanlage, und Sie sagen Ina, dass Sie uns beim Bäcker ein paar Teilchen holen soll. Und zwar sofort.«
Der Mann drückte den Knopf.
»Ja?«, war die Stimme der Sekretärin zu hören.
»Ina …« Francks Hirn suchte verzweifelt nach Alternativen.
»Ja?«
»Kannst …«, Franck hielt schlagartig inne, als er sah, wie der Mann den Finger am Abzug langsam krümmte, »… kannst du zum Bäcker gehen und uns frische Teilchen kaufen? Bitte jetzt gleich?«
»Wenn Sie das wollen.«
»Danke, Ina.«
Der Mann ließ den Knopf los, nahm eine Rolle weißes Klebeband aus seiner Jackentasche, ging um den Stuhl herum und klebte Francks Unterarme an die Lehnen. Danach zog er das Klebeband um die Brust und die Rückenlehne sowie um die Knöchel und das stählerne Fußkreuz des Stuhls. Ein merkwürdiger Gedanke überkam Franck: Er hätte mehr Angst haben sollen. Der Mann hatte Agnete Iversen getötet. Kalle. Sylvester. Hugo Nestor. War ihm nicht klar, dass er, Franck, nun selbst an der Reihe war? Vielleicht wollte sein Hirn das einfach deshalb nicht begreifen, weil er sich am helllichten Tag in seinem eigenen, sicheren Büro im Staten befand. Oder weil er den Jungen in seinem eigenen Gefängnis hatte groß werden sehen, ohne dass der auch nur ein einziges Mal zu Gewalt geneigt hätte – sah man einmal von dem einen Vorfall mit Halden ab.
Der junge Mann durchwühlte Francks Taschen und nahm das Portemonnaie und die Autoschlüssel heraus.
»Porsche Cayenne«, las er laut, einen Blick auf den Schlüssel werfend. »Ein teures Auto für einen Beamten, nicht wahr?«
»Was wollen Sie?«
»Ich will Antworten auf drei einfache Fragen. Beantworten Sie alle drei wahrheitsgemäß, lasse ich Sie leben. Tun Sie das nicht, bin ich leider gezwungen, Sie zu töten.« Er klang beinahe bedauernd.