»Die erste Frage lautet: Auf welches Konto hat Nestor das Geld überwiesen, wenn er bezahlt hat, und auf welchen Namen ist dieses Konto eingetragen?«
Franck dachte nach. Niemand wusste von dem Konto. Er könnte also irgendetwas Unüberprüfbares aus dem Hut zaubern. Franck öffnete den Mund, aber der Mann kam ihm zuvor:
»An Ihrer Stelle würde ich gut nachdenken, bevor ich antworte.«
Franck starrte auf die Mündung der Waffe. Wie meinte er das? Niemand konnte bestätigen oder bestreiten, welches sein Konto war. Außer Nestor natürlich, von dem er sein Geld erhalten hatte. Franck blinzelte. Hatte der Mann Nestor über das Konto ausgequetscht, bevor er ihn umgebracht hatte? War das ein Test?
»Das Konto läuft auf den Namen einer Gesellschaft«, sagte Franck. »Dennis Limited, registriert auf den Cayman Islands.«
»Und die Kontonummer?« Der Junge hielt etwas in die Höhe, das wie eine vergilbte Visitenkarte aussah. Hatte er sich die Nummer aufgeschrieben, die er von Nestor bekommen hatte? Oder war das ein Bluff? Auch wenn er ihm die Kontonummer gab, Geld konnte er ja trotzdem nicht abheben.
Franck begann mit den Zahlen.
»Langsamer«, sagte der Mann und warf einen Blick auf die Karte. »Und deutlicher.«
Franck gehorchte.
»Dann bleiben nur noch zwei Fragen«, sagte der Mann, als Franck fertig war. »Wer hat meinen Vater getötet? Und wer war der Maulwurf, der dem Zwilling geholfen hat?«
Arild Franck blinzelte. Sein Körper hatte mittlerweile verstanden und sonderte aus jeder Pore Schweiß ab. Die Angst war angekommen. Auch wegen des Messers. Des kleinen, hässlichen, krummen Dings von Nestor.
Er schrie.
»Okay, das verstehe ich«, sagte Simon, als er sein Handy in die Jackentasche gleiten ließ und aus dem Tunnel in das Licht über Bjørvika und dem Oslofjord fuhr.
»Was verstehen Sie?«, fragte Kari.
»Eine der Rezeptionistinnen von der Nachtschicht im Plaza hat gerade bei der Polizei angerufen und ausgesagt, dass die gesuchte Person dort heute Nacht in einer Suite abgestiegen ist. Unter dem Namen Fidel Lae. Und dass eine andere Person, ein Mann, nach einer Beschwerde des Nachbarn in der Suite gefunden wurde. Er war an die Kloschüssel gefesselt. Der ist aber gegangen, nachdem sie ihn losgebunden hatten. Das Hotel hat die Überwachungskameras am Eingang überprüft, und die zeigen Lofthus, wie er gemeinsam mit Nestor und dem Mann, der später im Zimmer gefunden worden ist, das Hotel betritt.«
»Sie haben noch immer nicht gesagt, was Sie verstanden haben.«
»Ach so. Wie die drei in der Enerhauggata wissen konnten, dass wir sie hochnehmen wollten. Laut dem Protokoll der Rezeptionistin hat der gefesselte Mann das Plaza verlassen, als wir noch vor dem Haus im Auto warteten. Vielleicht hat er rumtelefoniert und allen gesagt, dass Nestor verschleppt worden ist. Vielleicht haben sie daraufhin alle gefährdeten Positionen geräumt, sollte Nestor etwas verraten. Schließlich wussten sie ja, was mit Kalle passiert war. Und als sie mit den Mädchen wegfahren wollten, waren wir bereits da. Das ist ihnen nicht entgangen. Also haben sie darauf gesetzt, dass wir wieder verschwinden. Oder beide ins Haus gehen, damit sie unbemerkt wegfahren können.«
»Sie haben sich ziemlich viele Gedanken darüber gemacht, wie die wissen konnten, dass wir kommen«, sagte Kari.
»Hm«, sagte Simon und fuhr vor das Präsidium. »Aber jetzt weiß ich es ja.«
»Sie wissen, was möglicherweise passiert ist«, korrigierte ihn Kari. »Erzählen Sie mir, woran Sie jetzt denken?«
Simon zuckte mit den Schultern. »Dass wir Lofthus finden müssen, bevor er noch mehr Chaos anrichtet.«
»Seltsamer Typ«, sagte Morgan Askøy zu seinem älteren Kollegen, als sie über den breiten Flur des Zellentraktes gingen. Alle Türen standen weit offen, bereit für die Morgeninspektion. »Ein gewisser Sørensen. Ist einfach zu mir gekommen.«
»Da musst du dich irren«, sagte der Kollege. »Es gibt nur einen Sørensen in der A, und der ist krankgeschrieben.«
»Doch, der war das. Ich habe die Ausweiskarte mit seinem Namen auf der Uniform gelesen.«
»Ich habe erst vor ein paar Tagen mit Sørensen geredet, da war er gerade erst wieder in die Klinik gekommen.«
»Der ist dann aber schnell wieder fit geworden.«
»Merkwürdig, und der ist in Uniform gekommen, sagst du? Das war nicht Sørensen, der hasst Uniformen, der hat die immer in seinem Spind in der Garderobe gelassen. Dort hat Lofthus sie ja geklaut.«
»Der Ausbrecher?«
»Ja. Wie gefällt’s dir eigentlich hier bei uns?«
»Super.«
»Gut. Sieh aber zu, dass du deine freien Tage nutzt, und arbeite ja nicht zu viel.«
Sie gingen ein paar Schritte weiter, bis sie beide plötzlich stehen blieben und sich mit weit aufgerissenen Augen anblickten.
»Wie sah der Typ aus?«, fragte der Kollege.
»Wie sieht Lofthus aus?«, fragte Morgan.
Franck atmete durch die Nase. Sein Schrei war von der Hand des Mannes erstickt worden. Er hatte sie ihm auf den Mund gelegt, dann einen Schuh abgestreift und eine Socke ausgezogen. Die hatte er Franck in den Mund gedrückt und ihm Klebeband über die Lippen gezogen.
Jetzt schnitt der Mann etwas von dem Klebeband an der rechten Lehne ab, so dass Franck die Finger um den Stift legen und an das Blatt kommen konnte, das am äußersten Rand des Schreibtisches lag.
»Antworte.«
Franck schrieb:
Weiß nicht.
Dann ließ er den Stift fallen.
Er hörte das Knistern des Klebebands, als ein weiterer Streifen abgerissen wurde, und roch den Leim und die Lösungsmittel, ehe sich das Tape über seine Nasenlöcher legte und ihm die Luft abschnitt. Franck spürte, wie sein Körper am Stuhl zerrte und ruckte, als wäre er außer Kontrolle geraten. Rüttelte und riss. Er tanzte diesem Teufel etwas vor! Der Druck in seinem Kopf stieg bis ins Unermessliche, und er bereitete sich auf den Tod vor, als der Mann das spitze Ende des Stifts durch das straff gespannte Tape auf seinen Nasenlöchern stieß.
Ein Loch bohrte. Das linke Nasenloch saugte Luft ein, während die ersten warmen Tränen über Francks Wangen liefen.
Der Mann reichte ihm zum zweiten Mal den Stift. Franck konzentrierte sich:
Gnade. Würde den Namen des Maulwurfs aufschreiben, wenn ich ihn wüsste.
Der Mann las. Schloss die Augen und schnitt eine Grimasse, als hätte er Schmerzen. Dann riss er einen neuen Klebestreifen ab.
Das Telefon auf dem Tisch klingelte, und Franck starrte voller Hoffnung auf die interne Nummer, die auf dem Display aufleuchtete. Goldsrud, der Chef vom Wachdienst. Aber der Mann kümmerte sich nicht darum, sondern klebte Franck wieder die Nase zu. Der stellvertretende Gefängnisleiter spürte, wie das Zittern begann, das seine Panik begleitete. Es war so stark, dass er sich nicht sicher war, ob er zitterte oder lachte.
»Der Chef geht nicht dran«, sagte Geir Goldsrud und legte auf. »Und Ina ist nicht im Büro, sonst geht immer sie ans Telefon, wenn er nicht da ist. Aber bevor wir den Chef suchen, gehen wir das noch einmal durch. Du hast gesagt, dass der Typ, der sich Sørensen nannte, so aussah wie …«
Der Leiter des Wachdienstes zeigte auf den PC-Bildschirm, auf dem ein Foto von Sonny Lofthus abgebildet war.
»Der sieht nicht nur so aus …, er ist es!«, rief Morgan. »Wirklich, hundert Prozent.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Goldsrud.
»Ruhe, du hast gut reden«, schnaubte Morgan. »Der Typ wird wegen sechsfachen Mordes gesucht.«
»Ich rufe Ina auf ihrem Handy an. Wenn sie nicht weiß, wo der Chef ist, starten wir hier drin eine Suchaktion. Aber ich will keine Panik, verstanden?«
Morgan sah zu seinem Kollegen und dann wieder zum Leiter des Wachdienstes. Sie schienen mehr zu Panik zu neigen als er. Er war nur aufgeregt. Verdammt aufgeregt! Schließlich brach nicht jeden Tag ein Ausbrecher ins Gefängnis ein!
»Ina?«, Goldsrud schrie fast ins Telefon, und Morgan sah die Erleichterung auf seinem Gesicht. Es war einfach, dem Leiter des Wachdienstes Vorwürfe zu machen, dass er keine Verantwortung übernahm, andererseits musste es die Hölle sein, direkt dem stellvertretenden Gefängnisdirektor unterstellt zu sein. »Wir müssen Franck erreichen, sofort! Wo ist er?«