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Morgan sah, dass die Erleichterung erst Verblüffung und dann blankem Entsetzen wich. Der Wachdienstleiter unterbrach die Verbindung.

»Was …?«, wollte der ältere Kollege wissen.

»Sie hat gesagt, er habe Besuch bekommen«, sagte Goldsrud, stand auf und trat an den Schrank ganz hinten im Raum. »Von einem Sørensen.«

»Und was tun wir jetzt?«, fragte Morgan.

Geir steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und öffnete. »Das hier«, sagte er.

Morgan zählte zwölf Gewehre.

»Dan und Harald, ihr kommt mit!«, rief Goldsrud, und Morgan hörte in ihren Stimmen weder Verblüffung noch Entsetzen oder mangelnde Verantwortungsbereitschaft. »Jetzt!«

Simon und Kari standen vor dem Aufzug im Atrium des Polizeipräsidiums, als Simons Handy klingelte.

Der Anruf kam von der Rechtsmedizin.

»Wir haben vorläufige DNA-Analysen von deinen Zahnbürsten.«

»Gut«, sagte Simon. »Und?«

»Wir haben derzeit eine fünfundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit.«

»Wofür?«, fragte Simon, als sich die Fahrstuhltüren öffneten.

»Dafür, dass wir für den Speichel an zwei Zahnbürsten einen Treffer in unserer Datenbank haben. Interessant ist nur, dass das kein Krimineller oder Polizist, sondern ein Opfer ist. Genauer gesagt, sieht es so aus, als wären diejenigen, die diese Zahnbürsten benutzt haben, eng mit diesem Mordopfer verwandt.«

»Damit habe ich gerechnet«, sagte Simon und trat in den Fahrstuhl. »Das sind nämlich die Zahnbürsten der Familie Iversen. Ich habe gesehen, dass in Iversens Bad nach dem Mord die Zahnbürsten fehlten. Der Treffer ist Agnete Iversen, nicht wahr?«

Kari sah rasch zu Simon, der triumphierend die Arme ausbreitete.

»Nein«, antwortete die Stimme aus der Rechtsmedizin. »Agnete Iversen ist noch gar nicht in unserem zentralen DNA-Register eingetragen.«

»Oh? Und wie … wer?«

»Es handelt sich um ein unbekanntes Mordopfer.«

»Ihr habt eine Verbindung zwischen zwei von drei Zahnbürsten und einem unbekannten Mordopfer gefunden? Unbekannt wie …?«

»Wie nicht identifiziert, ja. Ein sehr, sehr junges und sehr totes Mädchen.«

»Wie jung?«, fragte Simon und starrte auf die sich schließenden Aufzugtüren.

»Jünger, als sie sonst sind.«

»Jetzt red schon.«

»Vermutlich vier Monate.«

Simons Hirn arbeitete auf Hochtouren. »Eine zu späte Abtreibung von Agnete Iversen?«

»Nein.«

»Nicht? Mann, wer ist das … verflucht!« Simon schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die Wand.

»Verbindung unterbrochen?«, fragte Kari.

Simon nickte.

»Wir sind ja gleich wieder draußen«, sagte sie.

Der Mann machte mit dem Stift zwei kurze Schnitte in das Tape. Einen unter jedem Nasenloch. Und Arild Franck sog neue Lebenssekunden in seine Lunge. Er wollte jetzt nur noch leben. Und sein Körper folgte einzig und allein diesem Willen.

»Willst du jetzt einen Namen aufschreiben?«, fragte der Mann leise.

Franck atmete hart, er wünschte sich, breitere Nasenlöcher zu haben, weitere Atemwege, um mehr von dieser wunderbaren Luft in sich aufnehmen zu können. Franck horchte auf Geräusche, in der Hoffnung, dass sie unterwegs waren, dass Rettung nahte, während er den Kopf schüttelte und mit der trockenen Zunge hinter der Socke und den Lippen hinter dem Tape signalisieren wollte, dass er keinen Namen nennen konnte und nicht wusste, wer der Maulwurf war. Er wollte einfach nur Gnade. Vergebung.

Er erstarrte, als der Mann wieder vor ihn trat und das Messer hob. Franck konnte sich nicht rühren, alles war festgeklebt. Alles … Das Messer kam. Nestors hässliches, krummes Messer. Er drückte den Kopf gegen die Lehne des Stuhls, spannte jeden Muskel an und schrie innerlich, als er das Blut aus seinem Körper spritzen sah.

Kapitel 32

»Zwei«, flüsterte Goldsrud, der Leiter des Wachdienstes.

Die Männer standen mit schussbereiten Waffen da und lauschten auf die Stille hinter der Tür des stellvertretenden Gefängnisleiters.

Morgan holte tief Luft. Jetzt geschah es. Jetzt war er also endlich bei etwas dabei, wovon er seit seiner Kindheit geträumt hatte. Jemanden festnehmen, vielleicht sogar …

»Drei«, flüsterte Goldsrud.

Dann schwang er die Axt. Die Klinge traf das Türschloss, und die Splitter stoben in alle Richtungen, als Harald, der Größte von ihnen, sich gegen die Tür warf.

Morgan schob sich mit gezückter Waffe in den Raum und trat rasch zwei Schritte zur Seite, wie Goldsrud es ihm eingeschärft hatte. Es war nur eine Person im Raum. Morgan starrte auf den Mann auf dem Stuhl, von dessen Brust, Hals und Kinn das Blut troff. Unglaublich viel Blut! Morgan spürte, wie seine Knie weich wurden, als hätte ihm jemand etwas injiziert. Nein, das durfte jetzt nicht geschehen. Aber das Blut! Der Mann zitterte und zuckte, als gingen elektrische Stöße durch seinen Körper. Und seine Augen starrten sie an, panisch, hervorgequollen wie bei einem Tiefseefisch.

Geir machte zwei Schritte nach vorn und riss das Tape vom Mund des Mannes.

»Wo sind Sie verletzt, Chef?«

Der Mann öffnete weit den Mund, ohne dass ein Laut zu hören war. Goldsrud steckte ihm zwei Finger in den Rachen und zog eine schwarze Socke heraus. Speichel spritzte über die Lippen des Mannes, als er schrie, und Morgan erkannte die Stimme des stellvertretenden Gefängnisleiters, Arild Franck, wieder:

»Holt ihn euch! Lasst ihn nicht entkommen!«

»Wir müssen die Wunde finden und die Blutung …« Der Leiter des Wachdienstes wollte das Hemd seines Chefs aufreißen, aber Franck schrie weiter: »Schließt die Türen, verdammt, er entkommt euch! Er hat meine Autoschlüssel! Und meine Uniformmütze!«

»Immer mit der Ruhe, Chef«, sagte Goldsrud und schnitt das Klebeband an einer der Armlehnen durch. »Er ist eingeschlossen, an den Fingerabdrucksensoren kommt er nicht vorbei.«

Franck starrte ihn wütend an und hielt die befreite Hand hoch. »Doch, das kommt er!«

Morgan taumelte nach hinten und musste sich an die Wand lehnen. Obwohl er es versuchte, konnte er den Blick nicht von dem Blut losreißen, das aus der Hand des stellvertretenden Gefängnisleiters strömte, aus dem Stumpf des Zeigefingers.

Kari folgte Simon aus dem Fahrstuhl über den Flur zum Großraumbüro.

»Also«, sagte sie und versuchte die Information zu verdauen. »Sie haben diese Zahnbürsten in einem Umschlag zugeschickt bekommen, in dem sonst nur noch ein Zettel war, auf dem stand, dass Sie die DNA überprüfen lassen sollen, unterschrieben mit einem S?«

»Ja«, sagte Simon, der eine Nummer wählte.

»Und die DNA auf zwei der Zahnbürsten beweist die Verwandtschaft zu einem ungeborenen Kind? Das als Mordopfer regis­triert ist?«

Simon nickte, während er den Zeigefinger auf die Lippen legte, um ihr zu zeigen, dass er wieder Verbindung hatte. Er sprach laut und deutlich, damit sie beide alles hörten.

»Hier ist wieder Kefas. Wer war das Kind, wie starb es und in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen stand es?«

Er hielt das Telefon zwischen sich und Kari, damit auch sie ­alles hörte:

»Wir wissen weder, wer das Kind war, noch, wer die Mutter ist. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass die Mutter an einer Überdosis im Zentrum von Oslo starb, vermutlich wurde sie ermordet. In der Akte ist sie als nicht identifiziert registriert.«

»Wir kennen den Fall«, sagte Simon und fluchte leise. »Asiatisch, vermutlich vietnamesisch. Traffickingopfer.«

»Das ist jetzt Ihre Sache, Kefas. Das Kind oder der Fötus starb als Folge des Todes der Mutter.«

»Verstehe. Und wer war der Vater?«

»Die rote Zahnbürste.«

»Die … rote?«

»Ja.«

»Danke«, sagte Simon und legte auf.