»Sie war eine Gefangene, Iversen, von zu Hause entführt.«
Der Immobilienmakler zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, aber ich habe sie freigekauft und ihr eine Wohnung besorgt, in der wir uns treffen konnten. Nur sie und ich. Irgendwann hat sie mir gesagt, dass sie seit Monaten ihre Menstruation nicht mehr hatte und möglicherweise schwanger war. Ich habe ihr gesagt, sie müsse das Kind wegmachen lassen, aber sie wollte nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deshalb habe ich dann irgendwann Agnete gefragt …«
»Sie haben Ihre Frau gefragt?«
Iversen hob abwehrend die Hand. »Ja, ja. Agnete war eine erwachsene Frau. Sie hatte nichts dagegen, dass sich andere um das kümmerten, wozu sie keine Lust hatte. Sie selbst interessierte sich ja mehr für Frauen als für Männer, um es mal so zu sagen.«
»Aber sie hat Ihnen einen Sohn geschenkt?«
»In Ihrer Familie nimmt man Pflichten ernst. Und sie war eine liebevolle Mutter.«
»Eine Familie, die in Oslo mehr Immobilien besitzt als alle anderen und deren Fassade und Name derart perfekt und hochglanzpoliert ist, dass ein asiatischer Bastard natürlich nicht in Frage kam.«
»Agnete war altmodisch, ja. Ich habe sie gefragt, weil letztlich ja sie entscheiden musste, was passieren sollte.«
»Weil ihr Geld das Fundament der Firma bildet«, sagte Simon. »Und dann hat sie die Entscheidung getroffen, das Problem zu beseitigen. Ein für alle Mal.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Iversen.
»Nein, weil Sie nicht gefragt haben. Sie haben es ihr überlassen, die entsprechenden Leute zu kontaktieren. Und diese Leute brauchten schließlich einen Sündenbock, weil ein Zeuge ausgesagt hatte, jemand habe dem Mädchen in einem Hinterhof eine Spritze gesetzt. Die Spuren mussten verwischt werden, und Sie haben bezahlt.«
Iversen zuckte mit den Schultern. »Ich habe niemanden ermordet, ich halte mich bloß an meinen Teil des Deals und sage Ihnen alles, was ich weiß. Die Frage ist, ob Sie sich an Ihren halten.«
»Die Frage«, sagte Simon, »lautet: Wieso hatte eine Frau wie Ihre Gattin Kontakt zu jemandem wie Kalle Farrisen? Der ist wirklich Abschaum.«
»Ich habe keine Ahnung, wer Kalle Farrisen ist.«
»Nein«, sagte Simon und faltete die Hände. »Aber Sie wissen, wer der Zwilling ist.«
Für einen Augenblick breitete sich absolute Stille im Raum aus. Selbst der Verkehr draußen auf der Straße schien den Atem anzuhalten.
»Entschuldigung?«, sagte Iversen schließlich.
»Ich habe einige Jahre im Dezernat für Wirtschaftskriminalität gearbeitet«, sagte Simon. »Iversen Immobilien hat Geschäfte mit dem Zwilling unternommen. Sie haben ihm geholfen, Drogen- und Traffickinggelder zu waschen, er hat Ihnen dafür mit fiktiven, steuersparenden Geschäften Defizite in Hundert-Millionenhöhe beschafft.«
Iver Iversen schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kenne keinen Zwilling.«
»Dass Sie sich fürchten, glaube ich Ihnen aufs Wort, den Rest aber nicht«, sagte Simon. »Ich habe Beweise für Ihre Zusammenarbeit.«
»Ach ja?«, sagte Iversen und legte die Fingerkuppen aneinander. »Und warum wurde nie Anklage erhoben, wenn Sie angeblich Beweise haben?«
»Weil ich intern blockiert worden bin«, sagte Simon. »Ich weiß aber, dass der Zwilling sein Blutgeld genutzt hat, um von Ihnen Geschäftsimmobilien zu erwerben, die er Ihnen dann später zu einem viel höheren Preis wieder verkauft hat. Auf jeden Fall auf dem Papier. Den Gewinn, den er damit allem Anschein nach gemacht hatte, zahlte er anschließend auf ein Konto ein, ohne dass die Steuerbehörden dumme Frage stellten. Und Sie hatten dadurch satte Defizite, die Sie von den gemachten Gewinnen abziehen konnten, um so Steuern zu sparen. Eine Win-win-Situation.«
»Interessante Theorie«, sagte Iversen und breitete die Arme aus. »Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Gibt es sonst noch etwas?«
»Ja, ich will den Zwilling treffen.«
Iversen seufzte tief. »Aber ich kenne keinen Zwilling.«
Simon nickte bedächtig. »Wissen Sie was? Wir haben das im Dezernat für Wirtschaftskriminalität so oft gehört, dass einige schon daran gezweifelt haben, dass der Zwilling überhaupt existiert. Sie hielten ihn bloß für einen Mythos.«
»Was meiner Meinung nach durchaus zutreffen kann, Kefas.«
Simon stand auf. »Gut. Nur dass ein Mythos nicht über Jahre hinweg den Drogen- und Sexmarkt in einer ganzen Stadt dominiert, Iversen. Mythen liquidieren keine schwangeren Frauen im Auftrag ihrer Geschäftspartner.« Er beugte sich vor, presste beide Hände auf die Tischplatte und atmete aus, so dass Iversen seinen Atem roch: »Niemand ist so lebensmüde, dass er wegen eines Mythos in den Abgrund springt. Ich weiß, dass er existiert.«
Simon stemmte sich hoch und ging zur Tür, er wedelte dabei mit seinem Handy herum. »Ich berufe eine Pressekonferenz ein, sobald ich im Aufzug bin. Sie können ja inzwischen das Vater-Sohn-Gespräch führen.«
»Warten Sie!«
Simon blieb vor der Tür stehen, ohne sich umzudrehen.
»Ich werde … werde sehen, was ich tun kann.«
Simon nahm eine Visitenkarte heraus und legte sie auf die Glasvitrine. »Er und Sie haben eine Frist bis heute Abend um sechs.«
»Im Staten!«, wiederholte Simon entgeistert, als er im Aufzug stand. »Lofthus hat Franck in dessen eigenem Büro angegriffen?«
Kari nickte. »Mehr weiß ich im Moment auch noch nicht. Was hat Iversen gesagt?«
Simon zuckte mit den Schultern. »Nichts. Bevor er den Mund aufmacht, will er natürlich erst seinen Anwalt anrufen. Wir müssen morgen mit ihnen reden.«
Arild Franck saß auf der Bettkante und wartete darauf, in den OP gebracht zu werden. Er trug ein hellblaues Krankenhaushemd und hatte ein Namensschild am Handgelenk. In der ersten Stunde hatte er keine Schmerzen gehabt, doch jetzt überfielen sie ihn, und die kleine Spritze, die er vom Anästhesisten bekommen hatte, war keine große Hilfe gewesen. Ihm war für die OP aber eine dicke Spritze versprochen worden, damit sein ganzer Arm betäubt war. Ein Chirurg, er hatte sich als Handchirurg vorgestellt, hatte ihm lang und breit erläutert, zu was die Mikrochirurgie heutzutage fähig war. Außerdem sei der Finger bereits eingetroffen und die Schnittfläche so glatt, dass die Nerven schon wachsen würden, wenn der Finger erst wieder mit seinem rechtmäßigen Besitzer vereint war. In ein paar Monaten würde er ihn wieder »für alles Mögliche« benutzen können. Der Humor war bestimmt gut gemeint gewesen, war an Franck aber trotzdem abgeprallt. Irgendwann hatte er den Chirurgen unterbrochen und ihn gefragt, wie lange er denn brauche, um den Finger wieder anzunähen. Schließlich wollte Franck zurück zu seiner Arbeit. Als der Chirurg erwiderte, dass allein die OP Stunden dauern würde, hatte er zu dessen Überraschung auf die Uhr gesehen und leise, aber gut hörbar geflucht.
Die Tür ging auf, und Franck hob den Kopf. Er hoffte, dass es der Anästhesist war, denn jetzt pochten die Schmerzen nicht nur in seinem Finger, sondern im ganzen Körper, den Kopf eingeschlossen.
Aber es war niemand in Weiß oder Grün, sondern ein großgewachsener Mann in einem grauen Anzug.
»Pontius?«, sagte Franck.
»Hallo, Arild! Ich wollte nur kurz sehen, wie es dir geht.«
Franck kniff ein Auge zu. Als könnte er so besser erkennen, was der Polizeipräsident im Schilde führte. Parr setzte sich neben ihm aufs Bett. Er sah auf die bandagierte Hand und nickte.
»Tut’s weh?«
»Die wird schon wieder. Seid ihr auf der Jagd?«
Der Polizeipräsident zuckte mit den Schultern. »Lofthus ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber wir werden ihn schon finden. Was wollte er denn?«
»Was er wollte?«, schnaubte Franck. »Woher soll ich das denn wissen. Der ist auf irgendeinem seltsamen Kreuzzug.«
»Genau«, sagte Parr. »Und deshalb lautet die Frage wohl, wann und wo er zum nächsten Mal zuschlägt. Hat er dir dafür irgendeinen Hinweis gegeben?«
»Hinweis?« Franck stöhnte und winkelte den Arm etwas an. »Ich wüsste nicht, was das sein könnte.«