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Elias blickte auf. Die Frau, die ihn angesprochen hatte, sah genau so aus, wie sich Ausländer immer skandinavische Frauen vorstellten. Sie schien sich selbst für recht groß zu halten, denn sie stand leicht vornübergebeugt und trug keine Absätze.

»Nein, wer will das wissen?«

»Kari Adel.« Sie hielt ihm den Ausweis hin, den sie um den Hals trug. »Ich bin neu bei der Mordkommission, man hat mir gesagt, ich würde ihn hier finden.«

»Willkommen. Was wollen Sie von Simon?«

»Er soll mich einweisen, mir zeigen, wie man bei so einem Fall vorgeht.«

»Oh, da kann ich Ihnen nur gratulieren«, sagte Elias und zeigte auf einen kleinen Mann, der am Flussufer entlangging. »Da drüben ist Ihr Mann.«

»Nach was sucht er?«

»Spuren.«

»Die sollten doch wohl eher oberhalb am Flussufer zu finden sein und nicht unterhalb.«

»Ja, er nimmt wohl an, dass wir da schon geschaut haben. Womit er recht hat.«

»Die Techniker tippen auf Selbstmord?«

»Ja, ich habe den Fehler gemacht, mit ihm darum zu wetten. Um ein Bier.«

»Fehler?«

»Er ist süchtig«, sagte Elias. »War süchtig.« Als er die hochgezogenen Augenbrauen der Frau sah, fügte er hinzu: »Das ist kein Geheimnis. Und nicht unwichtig, wenn Sie zusammenarbeiten sollen.«

»Mir hat niemand gesagt, dass ich mit einem Alkoholiker zusammenarbeiten muss.«

»Nicht Alkoholiker«, sagte Elias. »Er war spielsüchtig.«

Sie schob die blonden Haare hinter ein Ohr zurück und kniff ein Auge zusammen. »Was für ein Spiel?«

»Egal. Hauptsache, man kann dabei verlieren. Aber wenn Sie seine neue Partnerin sind, werden Sie noch oft genug Gelegenheit haben, ihn danach zu fragen. Wo waren Sie vorher?«

»Im Drogendezernat.«

»Na ja, dann kennen Sie sich hier am Fluss ja bestens aus.«

»Stimmt.« Sie sah blinzelnd zu dem Toten hinüber. »Kann natürlich auch ein Drogenmord gewesen sein, wobei der Fundort dann nicht passen würde. So weit oben verkaufen die keine harten Drogen mehr, dafür muss man runter hinter den Schous plass oder die Nybrua. Und wegen Hasch wird in der Regel niemand umgebracht.«

»Schon klar«, sagte Elias und nickte in Richtung Boot. »Jetzt haben sie ihn abgehängt. Wenn der einen Ausweis dabeihat, wissen wir gleich, wer es ist …«

»Ich weiß, wer das ist«, sagte Kari Adel. »Der Gefängnispastor. Per Vollan.«

Elias musterte sie. Sie würde sicher bald die Bürokluft ablegen und wie alle anderen herumlaufen. Vielleicht hatte sie ja nur zu viele amerikanische Fernsehserien gesehen. Abgesehen von den Klamotten hatte sie was. Vielleicht war sie ja eine von denen, die tatsächlich blieben. Eine der wenigen. Aber das hatte er auch schon von anderen gedacht. Also abwarten.

Kapitel 5

Der Verhörraum war in hellen Farben gehalten und mit Kiefernmöbeln ausgestattet. Eine rote Gardine verdeckte das Fenster zum Kontrollraum. Kommissar Henrik Westad vom Polizeidis­trikt Buskerud fand den Raum richtig angenehm. Er war schon öfter von Drammen nach Oslo gekommen, unter anderem, um Kinder zu einer Reihe von sexuellen Übergriffen zu befragen. Bei diesen Anlässen hatten sie den Raum sogar mit Puppen ausgestattet. Jetzt ging es um Mord. Er studierte den Mann mit dem wilden Bart und den langen Haaren, der ihm gegenüber auf dem Stuhl saß. Sonny Lofthus sah jünger aus, als er war, falls das Alter in den Unterlagen korrekt war. Und er wirkte clean, seine Pupillen hatten die normale Größe. Aber das war bei Menschen mit hoher Drogentoleranz oft so.

Westad räusperte sich:

»Sie haben sie also festgebunden, eine normale Metallsäge benutzt und sind dann einfach gegangen?«

»Ja«, sagte der Mann. Er hatte keinen Anwalt gewollt und beantwortete alle Fragen ziemlich einsilbig. Irgendwann war Westad dazu übergegangen, ihm Fragen zu stellen, die man ­einfach mit Ja oder Nein beantworten konnte. Und das funk­tionierte. Natürlich funktionierte es, schließlich wollte dieser Mann ja ein Geständnis ablegen. Aber trotzdem. Westad warf noch einmal einen Blick auf die Bilder, die vor ihm lagen. Der obere Teil des Schädels war abgesägt und zur Seite geklappt worden. Er hing nur noch an einem Stück Haut. Westad musste bei diesem Foto an ein geköpftes Frühstücksei denken, obwohl die Struktur des Gehirns deutlich zu erkennen war. Er glaubte zwar schon lange nicht mehr daran, den Menschen ansehen zu können, zu welchen Grausamkeiten sie fähig waren, aber dieser Mann … er strahlte nicht annähernd die Kälte, Aggressivität und, ja, Idiotie aus, die er bei anderen grausamen Mördern gespürt hatte.

Westad lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Warum gestehen Sie?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »DNA am Tatort.«

»Woher wissen Sie, dass wir die haben?«

Der Mann fuhr sich mit der Hand durch die langen, dicken Haare. Aus Hygienegründen hätte die Gefängnisleitung ihn zwingen können, sie zu schneiden. »Ich verliere Haare. Eine Folge der Drogen. Kann ich jetzt gehen?«

Westad seufzte. Ein Geständnis. Klare biologische Spuren am Tatort. Was ließ ihn hier eigentlich noch zweifeln?

Er beugte sich zum Mikrofon vor, das zwischen ihnen stand. »Das Verhör des Verdächtigen Sonny Lofthus wurde um 13.04 Uhr beendet.«

Er sah das rote Lämpchen verlöschen, wusste, dass der Techniker draußen die Aufnahme gestoppt hatte, stand auf und öffnete die Tür, so dass die Beamten hereinkommen und dem Mann wieder die Handschellen anlegen konnten, bevor sie ihn zurück ins Staten brachten.

»Was glauben Sie?«, fragte der Techniker, als Westad in den Kontrollraum kam.

»Glauben?« Westad schlüpfte in seine Jacke und zog den Reißverschluss mit einer harten, fast ärgerlichen Bewegung zu. »Er lässt einem nicht gerade viel Spielraum.«

»Ich meine das erste Verhör heute.«

Westad zuckte mit den Schultern. Eine Freundin des Opfers. Sie hatte erzählt, die Ermordete habe ihr erst kurz vor dem Mord anvertraut, dass ihr Mann sie der Untreue bezichtigt und ihr mit dem Tod gedroht habe. Eva Morsand sollte Angst gehabt haben. Berechtigte Angst, denn sie hatte tatsächlich jemanden getroffen und überlegte, ihren Mann zu verlassen. Ein klassischeres Motiv gab es kaum. Der junge Mann hingegen hatte eigentlich überhaupt kein Motiv! Die Frau war nicht vergewaltigt worden, und gestohlen worden war auch nichts. Lediglich der Apothekenschrank war aufgebrochen worden, und laut Ehemann fehlten ein paar Schlaftabletten. Aber wieso sollte jemand, der den Einstichen nach regelmäßig harte Drogen nahm, sich für Schlaftabletten interessieren?

Aber auch eine andere Frage meldete sich sofort: Warum sollte ein Ermittler, der ein Geständnis bekommen hatte, sich mit derartigen Kleinigkeiten abgeben?

Johannes Halden wischte den Boden vor den Zellen des A-Trakts, als zwei Beamte mit dem Jungen zwischen sich auf ihn zukamen. Sonny lächelte. Ohne die Handschellen hätte man meinen können, er ginge gemeinsam mit zwei Freunden zu irgendetwas Nettem.

Johannes hob den rechten Arm. »Guck mal, Sonny. Die Schulter ist wieder vollkommen in Ordnung! Nochmals danke für die Hilfe.«

Der Junge musste beide Hände heben, um dem Alten den nach oben gestreckten Daumen zu zeigen.

Die Wachleute hielten vor einer Zellentür und schlossen Sonnys Handschellen auf. Die Tür brauchten sie nicht aufzuschließen, da sich alle Zellen morgens um acht automatisch öffneten und erst abends um zehn wieder schlossen. Die Leute oben im Kontrollraum hatten Johannes gezeigt, wie sie alle Türen durch einen einfachen Tastendruck entriegeln konnten. Er mochte den Kontrollraum und wischte deshalb dort immer besonders gründlich. Es war ein bisschen so wie auf der Brücke eines Supertankers. Der Ort, an dem er eigentlich sein sollte. Vor dem »Vorfall« hatte er als Matrose gearbeitet und gerade begonnen, Nautik zu studieren. Decksoffizier hatte er werden wollen. Steuermann, Obersteuermann und dann Kapitän. Nach ein paar Jahren hätte er dann zurück zu seiner Frau und Tochter nach Farsund ziehen und als Lotse arbeiten können. Warum war das schiefgegangen? Warum hatte er all das kaputtgemacht? Was hatte ihn bewogen, die zwei großen Säcke aus dem Hafen Songkhla in Thailand mitzunehmen? Schließlich hatte er ganz genau gewusst, dass sie Heroin enthielten. Und auch der Strafrahmen und die hysterische norwegische Rechtspraxis, die zur dama­ligen Zeit Drogenschmuggel ähnlich schwer bestrafte wie vorsätzlichen Mord, war ihm bekannt gewesen. Er hatte nicht einmal die Unsummen an Geld gebraucht, die ihm versprochen worden waren, wenn er die beiden Säcke an eine Adresse in Oslo lieferte. Was also hatte ihn bewogen, das alles zu tun? War es der Kick gewesen? Oder der Traum, das bezaubernde Thaimädchen im seidenen Kleid wiederzusehen? Die glänzenden schwarzen Haare, die Mandelaugen, die Himbeerlippen und die weiche Stimme, die schwierige englische Worte geflüstert und ihn angefleht hatte, dass er das für sie und ihre Familie in Chang Rai tun müsse. Dass es die einzige Möglichkeit sei, sie zu retten. Er hatte ihr die Geschichte schon damals nicht abgenommen, wohl aber ihren Kuss. Und diesen Kuss hatte er über all die Seemeilen mit sich genommen. Sogar durch den Zoll, die Untersuchungshaft, den Gerichtssaal, die Scheidung, ja bis in den Besucherraum, in dem seine bald erwachsene Tochter ihm gesagt hatte, dass die Familie nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle. Bis in seine Zelle. Der Kuss und das mit ihm verbundene Versprechen war alles, was er hatte haben wollen und was ihm geblieben war.