»Aber ihr müsst doch über irgendetwas geredet haben.«
»Er hat geredet. Ich war geknebelt. Er wollte wissen, wer der Maulwurf ist.«
»Ja, das habe ich gesehen.«
»Wie? Du hast das gesehen?«
»Na ja, ich weiß das durch die Zettel in deinem Büro. Die, die nicht blutgetränkt waren.«
»Du warst in meinem Büro?«
»Du, der Fall hat höchste Priorität. Der Kerl ist ein Serienmörder. Die Presse sitzt uns schon länger im Nacken, aber jetzt hat sich auch noch der Senat eingeschaltet. Da will ich selbst beteiligt sein.«
Franck zuckte mit den Schultern. »Na dann.«
»Ich habe eine Frage …«
»Ich werde gleich operiert und habe verdammte Schmerzen, Pontius. Kann das nicht warten?«
»Nein. Sonny Lofthus wurde wegen des Mordes an Eva Morsand verhört, hat die Tat aber geleugnet. Hat ihm jemand gesagt, dass Morsands Ehemann unter Verdacht stand, bis wir Lofthus’ Haare am Tatort gefunden haben? Ja dass wir sogar Beweise dafür hatten, dass Yngve Morsand der Täter ist?«
»Keine Ahnung. Warum?«
»Wäre einfach gut zu wissen.« Parr legte eine Hand auf Francks Schulter, der unter Schmerzen zusammenzuckte. »Aber konzentrier du dich jetzt mal auf deine Operation.«
»Danke, aber eigentlich ist das ja keine große Sache.«
»Nein«, sagte Parr und nahm seine rechteckige Brille ab. »Vermutlich nicht.« Dann putzte er mit etwas abwesender Miene die Brillengläser. »Du musst ja nur daliegen und alles mit dir geschehen lassen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Franck.
»Dann lass dich mal zusammenflicken.«
Franck schluckte.
»Und«, sagte Parr und setzte die Brille wieder auf, »hast du ihm gesagt, wer der Maulwurf war?«
»Dass es sein eigener Vater war, meinst du? Dass Ab Lofthus gestanden hat. Hätte ich dem Jungen das auf den Zettel geschrieben, dann hätte er mir den Kopf abgeschnitten.«
»Was hast du ihm erzählt, Franck?«
»Nichts! Was hätte ich ihm denn sagen sollen?«
»Genau das frage ich mich ja, Arild. Ich wüsste verdammt gern, warum der Junge sich so sicher war, dass du es weißt. Immerhin war er deshalb sogar bereit, in dein Gefängnis einzubrechen.«
»Der Kerl ist total verrückt, Pontius. Ein Drogenabhängiger. Die werden alle früher oder später psychotisch, das weißt du doch auch. Außerdem, der Maulwurf? Mein Gott, diese Geschichte ist doch mit Ab Lofthus untergegangen.«
»Also, was hast du ihm gesagt?«
»Wie meinst du das?«
»Er hat dir nur einen Finger abgeschnitten. Alle anderen sind ermordet worden. Du bist verschont worden, du musst ihm also was gegeben haben. Denk dran, ich kenne dich, Arild.«
Die Tür ging auf, und zwei grüngekleidete Männer kamen lächelnd herein. »Und freuen Sie sich schon?«, fragte der eine.
Parr rückte sich die Brille zurecht. »Du hast kein Rückgrat, Arild.«
Simon ging die Straße hinunter in Richtung Fjord, hielt die Nase in den Wind, lief quer durch Aker Brygge, überquerte den Munkedamsveien und kam schließlich auf den Ruseløkkveien. Vor der Kirche, die eingeklemmt zwischen den Wohnhäusern lag, blieb er stehen. Die Sankt-Pauls-Kirche war deutlich weniger auffällig als ihre Namensvettern in anderen Städten. Eine katholische Kirche in einem protestantischen Land. In die falsche Richtung gewandt, nach Westen, und nur mit der Andeutung eines Turms oben auf der Fassade. Drei Treppenstufen, mehr gab es nicht. Aber diese Kirche war immer auf. Er hatte hier schon einmal gestanden, an einem späten Abend, mitten in seiner schlimmsten Krisenzeit, und war dann reingegangen. Damals hatte er gerade erst alles verloren, und Else hatte ihn zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht erlöst.
Simon ging die Treppe hoch, drückte die Messingklinke nach unten, schob die schwere Tür auf und ging hinein. Er wollte die Tür schnell wieder hinter sich schließen, aber die steifen Scharniere setzten sich zur Wehr. War die Tür damals auch schon so schwergängig? Er erinnerte sich nicht daran, dafür war er seinerzeit aber auch viel zu betrunken gewesen. Er ließ die Tür los, die sich langsam, Zentimeter für Zentimeter, von allein schloss. Aber der Geruch war ihm noch vertraut. So fremd. So exotisch. Und die Atmosphäre. So voller Spiritualität. Magie und Mystik, Wahrsagerei und Tivoli. Else mochte den Katholizismus. Nicht wegen der Ethik, sondern wegen der Ästhetik. Sie hatte ihm erklärt, dass alles in der Kirche, die Mauersteine, der Mörtel und die Glasfenster einer religiösen Symbolik unterliegen, die schon ans Komische grenzt. Und trotzdem hatte diese einfältige Symbolik Gewicht, unterschwellige Bedeutung und war in der Geschichte verankert. Viele denkende Menschen waren davon überzeugt, dass man diese Symbolik nicht einfach von der Hand weisen konnte. Die Bankreihen füllten den schmalen, weiß gestrichenen und sparsam geschmückten Raum bis zum Altar, über dem Jesus am Kreuz hing. Die Niederlage als Symbol des Sieges. Linker Hand lag etwas erhöht der Beichtstuhl. Die eine Seite des Vorhangs war wie bei einer Fotokabine zugezogen. Als er damals hierhergekommen war, hatte er nicht gewusst, welche Seite des Beichtstuhls für den reuigen Sünder war. Irgendwann war er mit seinem vom Alkohol benebelten Kopf dann auf den Gedanken gekommen, dass der Pfarrer die Sünder ja nicht sehen sollte, also in der Kabine mit dem Vorhang sitzen musste. Simon hatte sich auf den Hocker der offenen Kabine gesetzt und dann auf das perforierte Holzbrett eingeredet, das die beiden Kabinen trennte. Hatte seine Sünden bekannt. Mit unnötig lauter Stimme. Irgendwie hoffte er, fürchtete aber auch, dass nebenan jemand saß und ihn hörte. Oder irgendjemand sonst, egal wer. Hauptsache, er bekam, was er brauchte. Vergebung. Oder ein Urteil. Auf jeden Fall etwas anderes als die quälende Leere, in der er mit seinen Taten vollkommen allein war. Nichts von beidem war geschehen. Am nächsten Tag war er allerdings seltsam kopfschmerzlos aufgewacht. Das Leben ging einfach weiter, als wäre nichts geschehen, ja, als kümmerte sich niemand darum. Seit damals war er nie wieder im Innern einer Kirche gewesen.
Vorn am Altar stand Martha Lian zusammen mit einer resolut gestikulierenden Frau in einem eleganten Kostüm. Die moderne Kurzhaarfrisur, die sie trug, war typisch für Frauen über fünfzig, die jünger wirken wollten. Die Frau zeigte hierhin und dorthin, und Simon fing Wörter wie »Blumen«, »Zeremonie«, »Anders« und »Gäste« auf. Er war fast bei ihnen, als Martha Lian sich zu ihm umdrehte. Als Erstes fiel ihm auf, wie verändert sie wirkte. Wie leer. Wie allein. Wie unglücklich.
»Hallo«, sagte sie tonlos.
Die andere Frau verstummte.
»Entschuldigen Sie, dass ich hier einfach so auftauche«, sagte Simon. »Im Ila wurde mir gesagt, dass ich Sie hier finde. Ich hoffe, ich störe nicht bei etwas Wichtigem?«
»Nein, nein, das geht schon …«
»Doch, das tun Sie, wir planen hier gerade die Hochzeit meines Sohns mit Martha. Wenn das also warten könnte, Herr …«
»Kefas«, sagte Simon. »Und nein, das kann nicht warten. Ich bin von der Polizei.«
Die Frau sah Martha mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Siehst du, das ist wieder ein Beweis für das, was ich immer sage. Du lebst in einer seltsamen Welt, Liebes.«
»An der Sie keinen Anteil haben, Frau …?«
»Entschuldigen Sie?«
»Die Polizei und das Ila regeln das intern. Schweigepflicht und so weiter.«
Die Frau marschierte auf hart klackernden Absätzen davon, und Simon und Martha setzten sich in die erste Bank.
»Sie wurden gesehen, wie Sie gemeinsam mit Sonny Lofthus weggefahren sind«, sagte Simon. »Warum haben Sie mir das nicht erzählt?«
»Er hatte Lust, Autofahren zu lernen«, sagte Martha. »Ich habe ihn zu einem Parkplatz mitgenommen, wo wir ein bisschen geübt haben.«
»Er wird im ganzen Land gesucht.«
»Das habe ich im Fernsehen gesehen.«
»Hat er etwas gesagt oder haben Sie etwas beobachtet, das uns einen Hinweis auf seinen aktuellen Aufenthaltsort geben könnte? Denken Sie gut nach, bevor Sie diese Frage beantworten.«