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»Und wenn ich nein sage?«

Der Große seufzte wieder: »Wovor haben wir alle Angst, wenn wir alt werden, Kefas? Allein zu sterben, nicht wahr? Das ist doch wohl der eigentliche Grund, weshalb Sie verhindern wollen, dass Ihre Frau erblindet. Sie wollen, dass Sie gesehen werden, wenn Sie sterben. Weil Sie glauben, dass Sie dann nicht so einsam sind. Nun stellen Sie sich doch mal ein Totenbett vor, das noch ein­samer ist, ohne eine blinde, aber immerhin lebendige Frau daneben …«

»Was?«

»Bo, zeig es ihm.«

Der Blonde hielt Simon ein Handy hin. Das Display zeigte ein Foto. Er erkannte das Krankenhauszimmer wieder. Das Bett. Die schlafende Frau in den Kissen.

»Das Interessante daran ist nicht, dass wir wissen, wo sie jetzt ist«, sagte der Große, »sondern dass wir sie gefunden haben. Nur Stunden, nachdem Iversen Kontakt zu uns aufgenommen hatte. Sie können daraus ableiten, dass wir sie finden werden, wo auch immer Sie sie verstecken.«

Simon sprang von seinem Stuhl auf, die rechte Hand schoss nach vorn zur Kehle des Mannes, landete aber in einer Faust, die sie leicht wie einen Schmetterling gefangen hatte und jetzt mehr und mehr zusammendrückte.

»Sie sollten sich gut überlegen, wer Ihnen wichtiger ist, Kefas. Die Frau, mit der Sie sich das Haus teilen, oder dieser verwilderte Hund, den Sie adoptiert haben.«

Simon schluckte. Versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, das Knirschen seiner Fingerknochen und Gelenke. Er wusste aber, dass seine Tränen ihn entlarvten. Er blinzelte einmal. Zweimal. Und spürte den warmen Tropfen auf seiner Wange.

»Sie muss innerhalb von zwei Tagen in die USA überführt werden«, flüsterte Simon. »Ich brauche das Geld bei der Übergabe in bar.«

Der Zwilling ließ ihn los, und Simon wurde schwarz vor Augen, denn als das Blut wieder in seine Finger floss, steigerten sich die Schmerzen.

»Sie sitzt im Flugzeug, sobald Sie den Jungen und das Diebesgut abgeliefert haben«, sagte der Große.

Der Blonde führte Simon nach draußen. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war noch immer feucht und schwer.

»Was machen Sie mit ihm?«, fragte Simon.

»Das möchten Sie nicht wissen«, sagte der Blonde lächelnd. »Aber danke für den Handel.«

Die Tür wurde hinter Simon geschlossen und verriegelt.

Draußen wurde es dunkel. Simon ließ die Gasse schnell hinter sich und rannte los.

Martha hockte vor ihrem Rindersteak und starrte über die hohen Weingläser, die Köpfe auf der anderen Seite des Tisches, die Familienbilder auf dem Fensterbrett und die regenschweren Apfelbäume im Garten in den Himmel und die beginnende Dunkelheit.

Anders’ Rede war schön. Daran gab es keinen Zweifel, eine der Tanten hatte sich sogar eine Träne weggewischt.

»Martha und ich haben uns für eine Heirat im Winter entschieden«, sagte er. »Weil wir wissen, dass unsere Liebe alles Eis zum Schmelzen bringt, weil die Herzen unserer Freunde jedes Fest­lokal erwärmen und weil die Fürsorge, die Klugheit und der Halt, den uns unsere Familien geben, uns genug Licht schenken, um auch auf dunklen Winterpfaden zurechtzukommen. Aber natürlich gibt es auch einen ganz konkreten Grund …« Anders nahm das Weinglas und wandte sich zu Martha, der es erst im letzten Moment gelang, sich vom Abendhimmel loszureißen und sein Lächeln zu erwidern: »Wir schaffen es ganz einfach nicht, bis zum Sommer zu warten!«

Freudiges Lachen und Applaus erfüllten den Raum.

Anders nahm ihre Hand. Drückte sie fest, und als er sie lächelnd ansah, blitzte in seinen Augen etwas auf. Sie wusste, dass er Bescheid wusste. Dann beugte er sich nach unten, als hätte ihn die Situation ganz und gar mitgerissen, und küsste sie rasch auf den Mund. Jubel am Tisch. Er erhob sein Glas:

»Prost!«

Er setzte sich. Fing ihren Blick auf und lächelte das ach so private Lächeln, um den zwölf Gästen am Tisch zu sagen, dass es da noch etwas ganz Besonderes zwischen ihnen gab, das nur sie beide anging. Dass Anders Theater spielte, bedeutete nicht, dass er log, denn es gab wirklich etwas Schönes zwischen ihnen. Aber sie waren jetzt schon so lange zusammen, dass die Gefahr bestand, all die guten gemeinsamen Tage und Erlebnisse zu vergessen. Und die schweren Zeiten, die bereits hinter ihnen lagen, die ihre Beziehung im Nachhinein aber nur gefestigt hatten. Sie hatte Anders gern, sie liebte ihn, das stand außer Frage, sonst hätte sie ja niemals in die Hochzeit eingewilligt.

Sein Lächeln wirkte etwas aufgesetzt, als er sagte, dass sie ruhig etwas mehr Enthusiasmus zeigen und ihm helfen könne, wenn sie schon einmal die Familien versammelt hätten, um sie in ihre Hochzeitspläne einzuweihen. Das Ganze fand auf Wunsch ihrer Schwiegermutter statt. Martha hatte einfach nicht die Kraft gehabt, dagegen zu protestieren. Jetzt erhob sich Anders’ Mutter und klopfte an ihr Glas. Wie auf Knopfdruck war es plötzlich still. Nicht nur, weil die Gäste gespannt waren, was sie zu sagen hatte, sondern weil niemand von ihrem drakonischen Blick durchbohrt werden wollte.

»Es freut uns wirklich sehr, dass Martha den Wunsch geäußert hat, in der Sankt-Pauls-Kirche zu heiraten.«

Martha konnte ihr Husten kaum zurückhalten. Den Wunsch geäußert?

»Wie ihr ja alle wisst, bekennt unsere Seite der Familie sich zum katholischen Glauben. In vielen Ländern ist das Bildungsniveau und das Einkommen bei Protestanten durchschnittlich höher als bei Katholiken. Nicht so in Norwegen. Hier bilden die Katholiken eine Art Elite. Martha, ich heiße dich damit herzlich im A-Team willkommen.«

Martha lächelte über den Spaß, von dem sie ganz genau wusste, dass es kein Spaß war. Sie hörte immer noch die Stimme ihrer Schwiegermutter, war selbst aber schon wieder weit weg. Sie musste hier raus. Musste fliehen, musste an einen anderen Ort.

»An was denkst du, Martha?«

Sie spürte Anders’ Lippen an ihrem Haar und an ihrem Ohrläppchen, und es gelang ihr zu lächeln. Ihr war wirklich nach ­Lachen zumute, denn insgeheim spielte sie mit dem Gedanken, aufzustehen und ihm und allen anderen ins Gesicht zu sagen, dass sie in diesem Moment davon träumte, auf den sonnenbeschienenen Schären in den Armen eines Mörders zu liegen, während über den Fjord ein Regenschauer auf sie zuzog. Trotzdem bedeutete das nicht, dass sie Anders nicht liebte. Sie hatte ja gesagt. Sie hatte ja gesagt, weil sie ihn liebte.

Kapitel 35

»Erinnerst du dich daran, wie wir uns das erste Mal begegnet sind?«, fragte Simon und streichelte Elses Hand, die auf der ­Decke lag. Die zwei anderen Patienten im Raum schliefen hinter ihren Wandschirmen.

»Nein«, sagte sie lächelnd, und er wusste in diesem Moment genau, wie die seltsam leuchtenden, klaren blauen Augen hinter der Binde funkelten. »Aber du tust das ja. Und das ist okay, du kannst es mir dann erzählen.«

Statt zu lächeln, lachte Simon leise, damit sie es hören konnte.

»Du hast damals in einem Blumenladen in Grønland gearbeitet. Und ich bin zu euch in den Laden gekommen, um Blumen zu kaufen.«

»Einen Kranz«, sagte sie. »Du wolltest einen Kranz.«

»Du warst so schön, deshalb habe ich dafür gesorgt, dass unser Gespräch länger dauerte als eigentlich nötig. Obwohl du viel zu jung warst. Aber im Laufe dieses Gesprächs wurde ich selbst wieder jung. Und am nächsten Tag bin ich noch einmal gekommen, um Rosen zu kaufen.«

»Du wolltest Lilien.«

»Natürlich. Ich wollte ja, dass du dachtest, die wären für einen Freund. Aber beim dritten Mal habe ich Rosen gekauft.«

»Und beim vierten.«

»Meine Wohnung war so voll, dass ich kaum noch atmen konnte.«

»Die waren alle für dich.«

»Die waren alle für dich. Ich habe sie bloß aufbewahrt. Und dann habe ich dich eingeladen. Eine solche Angst hatte ich mein ganzes Leben noch nicht.«