»Du hast damals so traurig ausgesehen, dass ich einfach nicht nein sagen konnte.«
»Der Trick wirkt jedes Mal.«
»Nein«, sagte sie lachend. »Du warst traurig. Ich habe aber nicht nur traurige Augen gesehen. Sondern auch ein gelebtes Leben. Die Melancholie der reifen Jahre. Eine junge Frau findet das unwiderstehlich, weißt du.«
»Du hast immer gesagt, es hätte an meinem durchtrainierten Körper gelegen und an meinem Talent zuzuhören.«
»Nein, das habe ich nicht!« Else lachte noch lauter, und Simon lachte mit. Er war so froh, dass sie ihn jetzt nicht sehen konnte.
»Erinnerst du dich noch an den Kranz, den du beim ersten Mal gekauft hast?«, fragte sie leise. »Du hast lange auf die erste Karte gestarrt, die du geschrieben hast, und sie dann weggeworfen, um gleich darauf eine neue zu schreiben. Nachdem du weg warst, habe ich die Karte aus dem Mülleimer genommen und sie gelesen. Darauf stand ›Für die Liebe meines Lebens‹. Ich glaube, das hat mich neugierig gemacht.«
»Echt? Wäre dir nicht ein Mann lieber gewesen, der die Liebe seines Lebens noch vor sich hatte?«
»Ich wollte einen Mann, der in der Lage ist wirklich zu lieben.«
Er nickte. Sie hatten sich diese Geschichte in all den Jahren so oft erzählt, dass die Antworten zu einem Ritual geworden waren, wie auch die Reaktionen und die gespielte Überraschung. Sie hatten sich einmal geschworen, einander alles zu erzählen, absolut alles, und nachdem sie geprüft hatten, wie viel Wahrheit der andere ertrug, war diese Geschichte zur seelischen Heimat ihrer Beziehung geworden. Zu den Wänden und dem Dach, die ihr Heim zusammenhielten.
Sie drückte seine Hand. »Und das konntest du, Simon. Du konntest lieben.«
»Weil du mich wieder zusammengeflickt hast.«
»Du hast dich selbst repariert. Du hast aufgehört zu spielen, nicht ich.«
»Du warst meine Medizin, Else. Ohne dich …« Simon hielt die Luft an und hoffte, dass sie sein Zittern nicht merkte. Denn er wollte nicht in diesen Teil der Geschichte einsteigen, nicht heute Abend. Nichts von den Schulden hören, durch die er sie schließlich mit in die Sache hineingezogen hatte. Er hatte das Unverzeihliche getan und ihr Haus hinter ihrem Rücken beliehen und verloren. Und sie verzieh ihm. Sie wurde nicht wütend, zog nicht aus, ließ ihn nicht im eigenen Saft schmoren und stellte ihm kein Ultimatum. Sie streichelte ihm bloß über die Wange und verzieh ihm. Er weinte wie ein Kind, und seine Scham hatte ihn innerlich verbrannt und den Hunger nach dem Kick im Schnittpunkt zwischen Hoffnung und Furcht ausgelöscht, wenn alles auf dem Spiel stand, alles gewonnen oder verloren werden konnte und der Gedanke an die katastrophale, alles entscheidende Niederlage fast ebenso verlockend war wie das Hoffen auf den Gewinn. Es stimmte, genau in dem Moment hatte er aufgehört. Er spielte nie wieder, wettete nicht einmal um ein Bier. Das hatte ihn gerettet. Rettete sie. Das und die Tatsache, dass sie sich absolut alles erzählten. Das Wissen, dass er die Fähigkeit hatte, sich selbst zu beherrschen, kombiniert mit dem Mut, einem anderen Menschen vollständige Ehrlichkeit entgegenzubringen, hatte etwas bei ihm bewirkt, ihn als Mann, als Mensch wiederauferstehen und vielleicht sogar wachsen lassen, als hätte er nie irgendwelche Laster gehabt. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb er als Polizist heute nicht mehr die Einstellung vertrat, jeder Kriminelle sei unverbesserlich, und stattdessen bereit war, allen eine zweite Chance zu geben, auch wenn das seiner Erfahrung widersprach.
»Wir sind wie Charlie Chaplin und das Blumenmädchen«, sagte Else. »Rückwärts abgespielt.«
Simon schluckte. Das blinde Blumenmädchen. Das den Bettler für einen reichen Gentleman hielt. Simon wusste nicht mehr, wie der Bettler dafür gesorgt hatte, dass sie ihr Augenlicht wiederbekam. Nur dass er es anschließend nicht gewagt hatte, sich zu erkennen zu geben, weil er sich sicher war, dass sie ihn nicht haben wollte, wenn sie sah, wer er wirklich war. Und dann, als sie es erfahren hatte, liebte sie ihn trotzdem.
»Ich vertrete mir nur kurz die Beine«, sagte er und stand auf.
Es waren keine anderen Menschen auf dem Flur. Er blickte einen Moment lang auf ein Schild an der Wand, auf dem ein durchgestrichenes Handy zu sehen war. Dann nahm er sein Telefon heraus und tippte auf eine gespeicherte Nummer. Es war ein weitverbreiteter Irrglaube, dass die Polizei nicht dazu in der Lage war, eine Telefonnummer zu ermitteln, wenn man über einen Hotmail-Account eine E-Mail per Handy verschickte. Die Nummer war im Gegenteil sogar leicht zu finden gewesen.
Er spürte sein Herz so deutlich, als schlüge es direkt unter dem Schlüsselbein. Aber warum sollte der andere das Gespräch annehmen? Es gab keinen Grund dafür.
»Ja?«
Die Stimme. Fremd, aber dennoch seltsam vertraut, wie ein Echo aus einer fernen, nein, einer nahen Vergangenheit. Der Sohn. Simon musste sich zweimal räuspern, ehe es ihm gelang, seine Stimmbänder so in Schwingung zu bringen, dass Töne entstanden:
»Ich muss dich treffen, Sonny.«
»Das wäre wirklich nett …«
Nett? Aber da war keine Ironie in der Stimme.
»… ich werde aber nicht mehr lange hier sein.«
Hier? In Oslo, im Land, auf der Erde?
»Was hast du vor?«, fragte Simon.
»Ich glaube, Sie wissen das.«
»Du willst die Schuldigen finden und bestrafen. Die Leute, für die du gesessen hast. Die deinen Vater auf dem Gewissen haben. Und du willst den Maulwurf finden.«
»Mir bleibt nicht viel Zeit.«
»Aber ich kann dir helfen.«
»Danke, Simon, aber das Beste, was Sie für mich tun können, ist das, was Sie bis jetzt getan haben.«
»Aha. Und das wäre?«
»Sie haben mich nicht gestoppt.«
Eine Pause entstand. Simon horchte auf Hintergrundgeräusche, die eventuell verraten konnten, wo der Junge sich befand. Er hörte ein leises, rhythmisches Klopfen und sporadische Ausrufe oder Schreie.
»Ich glaube, Sie wollen das Gleiche wie ich, Simon.«
Simon schluckte. »Erinnerst du dich an mich?«
»Ich muss jetzt gehen.«
»Dein Vater und ich …«
Aber die Verbindung war bereits beendet.
»Danke, dass Sie kommen konnten.«
»Ist doch kein Problem, Kumpel«, sagte Pelle und musterte den jungen Mann im Rückspiegel. »Das Taxameter eines Taxifahrers läuft nur etwa während 30 Prozent seiner Arbeitszeit, es ist also nur gut für mich und meine Finanzen, dass Sie angerufen haben. Wohin darf ich Sie fahren?«
»Ullern.«
Der Mann hatte beim letzten Mal um Pelles Visitenkarte gebeten. Fahrgäste machten das manchmal, wenn sie zufrieden waren, aber es passierte nur selten, dass jemand auch wirklich anrief. Es war einfach zu leicht, über die Zentrale oder auf offener Straße ein Taxi zu finden. Warum der Mann ausgerechnet Pelle wollte und ihn extra aus Gamlebyen hierher nach Kvadraturen vor das zwielichtige Hotel Bismarck bestellt hatte, verstand er nicht.
Der junge Mann trug einen feinen Anzug, so dass Pelle ihn zuerst gar nicht erkannt hatte. Etwas war anders. Er hatte noch immer dieselbe rote Tasche, außerdem aber noch einen Aktenkoffer. In der Tasche hatte etwas aus Metall geklappert, als er sie auf den Sitz fallen ließ.
»Sie sehen glücklich aus auf dem Bild«, sagte der junge Mann. »Ist das Ihre Frau?«
»Oh ja, das«, sagte Pelle und spürte, wie er rot wurde. Niemand hatte dieses Bild je kommentiert. Es hing aber auch links unter dem Lenkrad, damit die Fahrgäste es nicht sahen. Es freute ihn aber, dass der Mann bemerkt hatte, dass sie glücklich waren. Dass sie glücklich war. Er hatte nicht das beste Bild von ihnen beiden ausgewählt, sondern das, auf dem sie am glücklichsten aussah.
»Sie macht heute Abend bestimmt Hackbällchen«, sagte er. »Und anschließend gehen wir vielleicht noch in den Kampenpark. Da geht immer so ein angenehmes Lüftchen, wenn es so warm ist wie heute.«
»Hört sich toll an«, sagte der Mann. »Es ist echt ein Segen, wenn man eine Frau getroffen hat, mit der man sein Leben teilen kann, nicht wahr?«