»Was ist das?«, fragte sie und starrte auf den Aktenkoffer, den er in der Hand hielt.
»Für die Renovierung, die ihr euch nicht leisten könnt. Jedenfalls für einen Teil.«
»Nein!« Sie warf einen Blick über ihre Schulter und senkte die Stimme: »Was fehlt dir eigentlich? Glaubst du wirklich, dass ich dein Blutgeld annehme? Du hast gemordet. Die Ohrringe, die du mir geschenkt hast …« Martha schluckte, schüttelte fest den Kopf und spürte die kleinen, wütenden Tränen, die ihr auf die Wangen tropften. »Sie haben … haben einer Frau gehört, die du ermordet hast!«
»Aber …«
»Verschwinde!«
Er nickte. Ging eine Stufe nach unten. »Warum hast du der Polizei nichts von mir gesagt?«
»Wer sagt, dass ich das nicht getan habe?«
»Warum hast du es nicht getan, Martha?«
Sie verlagerte ihr Gewicht. Hörte, dass hinter ihr ein Stuhl gerückt wurde. »Vielleicht, weil ich aus deinem Mund hören wollte, warum du all diese Menschen umgebracht hast.«
»Würde es einen Unterschied machen, wenn du es wüsstest?«
»Ich weiß es nicht. Was meinst du?«
Er zuckte mit den Schultern: »Wenn du mich bei der Polizei melden willst: Ich bin heute Nacht im Haus meines Vaters. Danach verschwinde ich.«
»Warum sagst du mir das?«
»Weil ich will, dass du mitkommst. Weil ich dich liebe.«
Sie blinzelte. Was sagte er da?
»Ich liebe dich«, wiederholte er langsam und sah aus, als überraschten ihn die eigenen Worte.
»Mein Gott!«, stöhnte sie verzweifelt. »Du bist doch verrückt!«
»Ich gehe jetzt.« Er drehte sich zum Taxi um, das mit laufendem Motor wartete.
»Warte! Wohin gehst du?«
Er drehte sich halb zu ihr um und lächelte schief. »Jemand hat mir von einer schönen Stadt unten im Süden erzählt. Ein weiter Weg, aber …« Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, und sie wartete. Wartete und hoffte darauf, dass er es sagte. Was es war, wusste sie nicht, nur dass dieses Wort, wenn es das richtige war, sie erlösen würde. Aber nur er konnte dieses Wort sagen, konnte wissen, welches Wort es war.
Stattdessen deutete er eine Verbeugung an, drehte sich um und ging zum Gartentor.
Martha wollte ihm etwas hinterherrufen, aber was? Es war verrückt. Eine idiotische Schwärmerei. Etwas, das nicht wirklich existierte, das in ihrem realen Leben nicht existieren durfte. Die Wirklichkeit war da drinnen, auf der anderen Seite, im Wohnzimmer hinter ihr. Sie schloss die Tür, drehte sich um und sah direkt in das wutverzerrte Gesicht von Anders.
»Weg!«
»Anders, nicht …«
Er stieß sie zur Seite, riss die Tür auf und stürmte nach draußen.
Martha rappelte sich hoch und kam gerade noch so rechtzeitig vors Haus, dass sie sah, wie Anders ihn einholte und ihm auf den Hinterkopf schlagen wollte. Aber Stig musste Anders kommen gehört haben, denn er tauchte ab, drehte sich wie in einer Pirouette um und schlang die Arme um Anders. Anders schrie wutentbrannt: »Ich werde dich umbringen!«, versuchte loszukommen, aber seine Arme steckten wie in einem Schraubstock fest. Er war hilflos. Dann ließ Stig Anders ebenso plötzlich wieder los und blieb mit passiv herabhängenden Armen vor ihm stehen. Anders sah ihn zuerst nur verdutzt an. Dann holte er zum Schlag aus. Und schlug. Er hob die Hand erneut und schlug wieder zu. Es war kaum etwas zu hören. Nur das dumpfe Klatschen von Knöcheln auf Fleisch und Knochen.
»Anders!«, schrie Martha. »Anders, hör auf!«
Beim vierten Schlag platzte die Haut über dem Wangenknochen des jungen Mannes. Beim fünften Schlag ging er in die Knie.
Die Tür auf der linken Seite des Taxis öffnete sich, und der Fahrer wollte aussteigen, aber der junge Mann hob den Arm, um ihm zu signalisieren, dass er sich heraushalten sollte.
»Verdammter Feigling!«, schrie Anders. »Verdammter Ehebrecher!«
Der junge Mann hob den Kopf, als wollte er Anders einen besseren Winkel bieten, und drehte ihm die noch unverletzte Wange zu. Anders trat. Sonnys Kopf schnellte zurück, und er sackte mit ausgebreiteten Armen nach hinten, wie ein Fußballspieler, der im Triumph auf den Knien über den Rasen rutscht. Anders musste mit seiner scharfen Schuhsohle die Stirn getroffen haben, denn das Blut strömte aus einem langen Riss unter dem Haaransatz. Als die Schultern des Mannes den Kies berührten und seine Jacke zur Seite rutschte, sah Martha, wie Anders mitten im Anlauf zu einem weiteren Tritt innehielt. Er starrte auf den Gürtel des Mannes wie sie auch. Dort steckte eine silberglänzende Waffe. Sie musste die ganze Zeit dort gewesen sein, doch der junge Mann hatte nicht nach ihr gegriffen.
Martha legte eine Hand auf Anders’ Schulter, und er zuckte zusammen, als wachte er aus einem Traum auf.
»Geh rein!«, sagte sie. »Jetzt!«
Er blinzelte sie verwirrt an. Dann gehorchte er. Ging an ihr vorbei und lief die Treppe hoch, auf der sich die anderen Gäste versammelt hatten.
»Rein!«, schrie Martha. »Das ist einer aus dem Ila. Ich kümmere mich um ihn. Los, geht schon rein!«
Martha hockte sich neben Sonny. Das Blut rann aus dem Cut auf der Stirn bis über den Nasenrücken. Er atmete mit offenem Mund.
Eine schneidende, fordernde Stimme kam von der Treppe: »Aber Liebes, ist das denn nötig? Du hörst doch ohnehin auf, wenn Anders und du …«
Martha schloss die Augen und spannte die Bauchmuskeln an: »Halt die Fresse und geh rein!«
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass er lächelte. Und dann flüsterte er mit blutigen Lippen, so leise, dass sie sich tief über ihn beugen musste:
»Er hat recht, Martha. Man kann wirklich spüren, wie die Liebe einen reinwäscht.«
Dann stand er auf. Blieb noch einen Moment schwankend stehen und taumelte durch das Gartentor zum Taxi.
»Warte!«, rief sie und packte den Aktenkoffer, der noch auf dem Kies lag.
Aber das Taxi war bereits angefahren und verschwand weiter unten hinter den letzten Villen im Dunkeln.
Kapitel 36
Iver Iversen wippte auf den Füßen und drehte den Stiel des leeren Martiniglases. Er musterte die Gäste, die in Grüppchen auf der weiß gekalkten Terrasse und drinnen im Salon standen. Der Raum hatte die Größe eines mittleren Ballsaals und war mit dem Geschmack eines Menschen möbliert, der nicht darin wohnen musste. »Innenarchitekten mit unbegrenzten Budgets, aber begrenzten Fähigkeiten«, hatte Agnete immer gesagt. Die Männer trugen, wie in der Einladung vorgegeben, Smoking. Die Frauen waren deutlich in der Unterzahl, aber die wenigen, die anwesend waren, fielen dafür umso mehr auf. Sie waren strahlend schön und aufregend jung. Eine sehr interessante ethnische Mischung. Lange splitternackte Rücken und tiefe Ausschnitte. Elegant, exotisch, importiert. Wahre Schönheit war selten. Iver Iversen wäre nicht überrascht gewesen, wenn jemand einen Schneeleoparden durch den Raum geführt hätte.
»Hier scheint ja wirklich die Creme de la Creme der Osloer Finanzwelt versammelt zu sein.«
»Sieht man mal von denen ab, denen das nicht so wichtig ist«, sagte Fredrik Ansgar, rückte sich die Fliege zurecht und nahm einen Schluck von seinem Gin Tonic. »Und von denen, die in ihrem Ferienhaus sind.«
Falsch, dachte Iver Iversen. Wer auch immer Geschäfte mit dem Zwilling machte, war für dieses Event zurück in die Stadt gekommen. Sich einem solchen Ereignis zu entziehen wagte niemand.
Der Zwilling. Iver musterte den großen Mann, der am Flügel stand. Er sah wirklich aus, als hätte er für die Männer auf den sowjetischen Propagandaplakaten oder für die Skulpturen im Vigelandsparken Modell gestanden. Alles an ihm war groß, kompakt, kantig: Kopf, Arme, Hände, Beine. Hohe Stirn, kräftiges Kinn, volle Lippen. Der Mann, mit dem er sprach, war korpulent und sicher größer als ein Meter achtzig, wirkte aber neben dem Zwilling wie ein Zwerg. Iver glaubte ihn von irgendwoher zu kennen. Der Typ trug eine Augenklappe. Bestimmt einer dieser Finanzmanager, die man immer wieder im Fernsehen sah.