Iversen nahm sich ein neues Glas Martini vom Tablett einer der Bedienungen, die ihre Runden durch den Raum drehten. Er wusste, dass er es besser nicht tun sollte, denn er spürte den Alkohol bereits. Aber als trauerndem Witwer stand ihm das wohl zu. Obwohl er sich eigentlich gerade deshalb zurückhalten sollte. Schließlich lief er so Gefahr, Dinge zu sagen, die er besser nicht sagen sollte.
»Weißt du eigentlich, woher der Zwilling seinen Namen hat?«
»Ich habe die Geschichte gehört, ja«, sagte Fredrik.
»Mir ist erzählt worden, der Bruder sei ertrunken. Das soll aber ein Unfall gewesen sein.«
Fredrik lachte. »Ein Unfall? In einem Eimer Wasser?« Er blickte sich nach einer dunkelhäutigen Schönheit um, die an ihnen vorbeiglitt.
»Schau mal«, sagte Iver. »Es ist sogar ein Bischof hier. Wo der ihm wohl ins Netz gegangen ist?«
»Eine wirklich beeindruckende Versammlung, ja. Stimmt es eigentlich, dass auch ein Gefängnischef zu seinen Leuten zählt?«
»Das ist aber noch nicht alles.«
»Polizei auch?«
Iver antwortete nicht.
»Weit oben?«
»Du bist ein junger Mann, Fredrik, und auch wenn du zum Kreis gehörst, bist du noch nicht so fest eingebunden, dass du nicht den Rückzug antreten könntest. Aber je mehr du weißt, desto mehr bist du an sie gekettet, das kannst du mir glauben, Fredrik. Könnte ich die Zeit zurückdrehen …«
»Und was ist mit Sonny Lofthus? Oder Simon Kefas? Lösen sich diese Probleme von selbst?«
»Klar doch«, sagte Iver und starrte auf ein junges, zerbrechlich wirkendes Mädchen, das allein an der Bar saß. Thailand? Vietnam? So jung, so hübsch, so dressiert. Voller Angst und ganz ohne Schutz. Genau wie Mai. Der Polizist tat ihm fast leid. Auch er war jetzt gefangen, steckte im gleichen Sumpf fest. Auch er hatte seine Seele für die Liebe einer jüngeren Frau verkauft, und wie Iver sollte er noch zu spüren bekommen, was Demut war. Iver hoffte jedenfalls, dass Simon das spüren würde, ehe der Zwilling tat, was er tun musste. Er musste Simon Kefas zuvorkommen. Ein kleiner See in der Østmarka? Vielleicht würden er und Lofthus auch jeder einen eigenen See bekommen.
Iversen schloss die Augen. Dachte an Agnete. Am liebsten hätte er das Martiniglas an die Wand geschmissen, aber stattdessen leerte er es in einem Zug.
»Telenor, Infostelle Verbindungsdienst.«
»Guten Abend, hier ist Hauptkommissar Simon Kefas.«
»Ich sehe das an Ihrer Nummer. Sie sind irgendwo in der Gegend des Ullevål Krankenhauses.«
»Beeindruckend. Aber ich müsste dringend eine andere Telefonnummer aufspüren.«
»Vollmacht?«
»Gefahr im Verzug.«
»Okay. Ich mache morgen einen Bericht, Sie müssen das dann noch mit dem Staatsanwalt klären. Name und Nummer?«
»Ich habe nur die Nummer.«
»Und was wollen Sie genau?«
»Eine Lokalisierung, wo dieses Telefon sich im Moment befindet.«
»Wir können nur einen ungefähren Umkreis angeben. Und wenn das Telefon nicht aktiv ist, kann es lange dauern, bis unsere Basisstationen ein Signal empfangen. Automatisch passiert das nur einmal in der Stunde.«
»Ich kann die Nummer anrufen, damit Sie ein Signal empfangen.«
»Dann darf der Betreffende wissen, dass Sie ihn lokalisieren wollen?«
»Ich habe die Nummer in der letzten Stunde mehrmals angerufen, es geht niemand dran.«
»Okay, geben Sie mir die Nummer und rufen Sie dann an. Ich will sehen, was ich machen kann.«
Pelle hielt auf der verlassenen Schotterstraße. Linker Hand fiel das Gelände zu einem im Mondschein glitzernden Fluss ab. Dort führte eine schmale Brücke von der Schotterstraße hinüber zur Landstraße, über die sie gekommen waren. Rechts lag geduckt ein Kornfeld, das unter den schwarzen Wolken wogte. Der Himmel wirkte wie das Negativ des hellen Sommerhimmels, von dem noch vor wenigen Stunden die Sonne geschienen hatte. Weiter vor ihnen, gut versteckt im Wald, befand sich ihr Bestimmungsort – eine große Villa, die von einem weißen Staketenzaun umgeben war.
»Ich hätte Sie besser zu einem Arzt gefahren. Ihre Wunden sollten wirklich behandelt werden«, sagte Pelle.
»Das wird schon wieder«, sagte der junge Mann und legte einen großen Geldschein auf die Konsole zwischen den Vordersitzen. »Und danke für das Taschentuch.«
Pelle sah in den Spiegel. Der Mann hatte sich das Tuch um die Stirn gebunden. Es war blutgetränkt.
»Überlegen Sie sich’s noch einmal. Ich fahre Sie auch gratis hin. Es gibt bestimmt auch in Drammen eine Ambulanz.«
»Vielleicht morgen«, sagte der junge Mann und zog die rote Tasche zu sich heran. »Ich muss diesem Mann erst einen Besuch abstatten.«
»Ist das denn nicht zu gefährlich? Sie haben doch gesagt, dass er jemanden umgebracht hat?« Pelle sah zu der Garage hinüber, die in die Villa integriert war. So viel Platz und doch keine separate Garage. Sicher jemand, der die amerikanische Bauweise liebte. Pelles Großmutter stammte aus einem Dorf, in dem fast nur Rückkehrer aus Amerika lebten. Da war alles amerikanisch gewesen, Häuser mit Säulen, Sternenbannern und amerikanischen Autos in der Garage. Sie hatten dort sogar einen 110-Volt-Anschluss, damit sie die Jukeboxen, Toaster und Kühlschränke, die sie in Texas gekauft oder von einem Opa in Bay Ridge, Brooklyn, geerbt hatten, direkt an die Steckdose anschließen konnten.
»Heute Abend tötet der niemanden«, sagte der Mann.
»Trotzdem«, sagte Pelle. »Soll ich nicht warten? Es ist eine halbe Stunde zurück nach Oslo, und wenn Sie sich hier von einem Taxi abholen lassen, kostet das ein Vermögen. Ich schalte auch die Uhr aus …«
»Danke, Pelle. Aber es ist wohl das Beste für uns beide, wenn Sie hier nicht Zeuge sind, verstanden?«
»Nein.«
»Gut.«
Der junge Mann stieg aus, blieb stehen und sah Pelle noch einmal an. Pelle zuckte mit den Schultern und rollte langsam davon. Er hörte das Knirschen des Schotters unter den Rädern, während er den jungen Mann im Rückspiegel beobachtete, bis er im dunklen Wald nicht mehr zu sehen war.
Pelle hielt den Wagen an. Er blieb sitzen und starrte in den Spiegel. Verschwunden. Wie sie.
Genau das war so schwer zu verstehen. Wie konnten Menschen, die immer da gewesen waren, Teil deines Lebens gewesen waren, plötzlich verschwinden, so dass man sie nie wiedersah? Außer im Traum. In den guten Träumen. Denn in den schlechten sah er sie nie. Dann sah er nur die Straße und die Scheinwerfer des entgegenkommenden Autos. Pelle Granerud, früher einmal ein vielversprechender Rallyefahrer, schaffte es in diesen Träumen nicht, zu reagieren und das simple Manöver einzuleiten, durch das er dem Besoffenen auf der falschen Fahrbahn hätte ausweichen können. Statt zu tun, was er jeden Tag im Training übte, erstarrte er. Weil er wusste, er lief Gefahr, das zu verlieren, was er nicht verlieren durfte. Nicht das eigene Leben, nein, sondern die beiden, die sein Leben waren. Die beiden, die er gerade aus dem Krankenhaus abgeholt hatte und die sein neues Leben sein sollten. Das gerade erst begonnen hatte. Als Vater. Ganze drei Tage hatte dieses Leben gedauert. Und als er aufwachte, war er wieder im gleichen Krankenhaus. Zuerst unterrichteten sie ihn über die Verletzungen an seinen Beinen. Ein Missverständnis, denn durch den Schichtwechsel waren sie nicht darüber informiert, dass Pelles Frau und Kind bei dem Unfall getötet worden waren. Es dauerte zwei Stunden, bis er das erfuhr. Er war allergisch gegen Morphium, angeblich war so etwas erblich, und hatte Tag für Tag unerträgliche Schmerzen ausgehalten und immer wieder ihren Namen geschrien. Aber sie kam nicht. Und Stunde für Stunde, Tag für Tag erkannte er allmählich, dass er sie nie, nie wiedersehen würde. Trotzdem hörte er nicht auf, ihren Namen zu rufen. Nur um ihn zu hören. Für das Kind hatten sie noch gar keinen Namen gehabt. Dann erkannte Pelle, dass diese Schmerzen erst an diesem Abend, als der junge Mann ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, ganz von ihm abgefallen waren.
Pelle beobachtete noch immer die Silhouette des Mannes, der hinter dem großen gardinenlosen Panoramafenster in dem weißen Haus saß. Das Wohnzimmer war hell erleuchtet, als säße der Mann in einem Ausstellungsraum. Als wartete er auf etwas.